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Was mit dem weißen Wilden geschah - Roman

Was mit dem weißen Wilden geschah - Roman

Titel: Was mit dem weißen Wilden geschah - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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Kaleschen,Geschäfte, Prachtstraßen, die Bäume an den Gehsteigen, die schwarz gekleideten Männer – und der Anblick der Hauptstadt eines Weltreiches versetzte ihn in eine Art dumpfer Verwunderung. Beim Aussteigen aus der Kutsche musste ich ihn beim Ärmel nehmen und ihn ins Hotel führen und dort durch die große Empfangshalle hinauf bis in sein Zimmer: Dort stand er den ganzen Nachmittag über am Fenster und blickte unbewegt und wortlos auf das Treiben unten auf der Straße.
    Und in der Tat, was hat er bislang von unserer Welt gesehen? Ein abgelegenes Haus am Ende einer Meerenge, einen Segler und Sydney, dieses große Dorf, das er kaum zu Gesicht bekommen hat. Und jetzt befindet er sich in der vielleicht größten und modernsten Stadt des Universums. Das hatte ich vorher nicht bedacht – aber was hätte ich auch anderes tun können.
    Während Narcisse sich London anschaute, organisierte ich unsere Überfahrt nach Frankreich und die Eisenbahnfahrt über die neue Verbindung bis nach Dover und dann von Calais bis nach Paris.
    In der umfangreichen Post, die mir der Portier überreichte, war auch ein Umschlag aus Saint-Gilles-sur-Vie, bei dessen Anblick mein Herz schneller schlug. Ich öffnete ihn noch vor Ihrem Brief und bin mir sicher, dass Sie dafür Verständnis haben:
    «Monsieur le Vicomte,
    Ihr Brief vom 21. Juni aus Valparaíso hat traurige Erinnerungen wachgerufen. Bei dem Mann, nach dem Sie suchen, handelt es sich mit Bestimmtheit um Narcisse Pelletier, geboren am 13. Mai 1825 und jüngster Sohn eines in der Gemeinde hoch geschätzten Schusters. Im Alter von fünfzehn Jahren entschied er sich für die Seefahrt und leistete zuerst als Schiffsjunge und dann als Matrose auf verschiedenen Seglern seinen Dienst. Er war unerschrocken und heuerte gerne fürlange Fahrten an. Dazwischen blieb ihm mitunter Zeit für eine kurze Rückkehr zu Eltern, Bruder und Schwester.
    Er ging in Bordeaux an Bord der Saint-Paul, um nach China zu segeln, und verstarb am 5. November 1843 auf hoher See, zwischen Kapstadt und Java. Das Datum und die Umstände seines Todes sind auf dem Totenschein verzeichnet.
    Seine Familie und die ganze Gemeinde von Saint-Gilles waren tief erschüttert über den Tod dieses tapferen jungen Mannes, der in seinem viel zu kurzen Leben nur gute Erinnerungen hinterlassen hat. Seine Eltern haben sich von dem Verlust nie wieder gänzlich erholt, und selbst die nunmehr achtzehn Jahre und die Enkel des ältesten Sohnes und der Tochter – einer von ihnen trägt den Vornamen Narcisse – haben den Kummer nicht lindern können.
    Aus diesem Grund möchte ich ihnen Ihr sonderbares Schreiben vorenthalten, dessen Beweggründe mir wirklich unbegreiflich sind. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir erklären könnten, warum Sie dieses lang zurückliegende Drama wiederauferstehen lassen wollen, und ich bitte Sie, nicht überstürzt zu handeln. Wir wollen dieser unglückseligen Familie doch unnötiges Leid ersparen. Falls Sie etwas über die letzten Augenblick von Narcisse Pelletier erfahren haben, was ich annehme, so beschwöre ich Sie, nur mich davon in Kenntnis zu setzen und mir die Entscheidung zu überlassen, ob es für die Angehörigen von Interesse ist.
    Ich appelliere an Ihre Menschlichkeit und bitte um weitere Erklärungen,
    hochachtungsvoll …»
    Im ersten Augenblick wollte ich mich in Narcisse’ Arme werfen und ihm seinen Namen, sein Alter und seine Lebensgeschichte mitteilen und ihm sagen, dass seine Eltern noch am Leben sind. Doch unterdrückte ich diesen Impuls und zwang mich, den Brief noch einmal zulesen und darüber nachzudenken. Warum hatte der Bürgermeister die Formulierung «auf hoher See verstorben» gewählt? Sowohl der Gouverneur als auch ich waren immer davon ausgegangen, dass Narcisse als Einziger einen Schiffbruch überlebt – oder von den Überlebenden als Einziger den Aufenthalt bei den Wilden überstanden hatte. Die Worte des Bürgermeisters legten hingegen nahe, dass er an Bord gestorben war, tödlich erkrankt oder verunglückt auf einem Schiff, das auf Kurs geblieben war und dessen Kapitän, um den amtlichen Formalitäten zu genügen, einen Totenschein samt dem genauen Datum ausgestellt hatte. Auf hoher See gestorben und dem Meer übergeben. Wie hätte Narcisse das überleben sollen? Etwas hieran erschien mir unlogisch.
    Narcisse wurde 1825 geboren und war mithin achtzehn Jahre alt, als er aus einem mysteriösen Grund nicht länger als Matrose auf der Saint-Paul arbeitete,

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