Was mit dem weißen Wilden geschah - Roman
furchtbar lang erschienen sein. Meiner Ansicht nach ist er allerdings zu kurz, um derart tiefe Spuren zu hinterlassen wie bei Narcisse. Ich glaube nicht, ihr Leid oder ihren Mut kleinzureden, wenn ich behaupte, dass ein Aufenthalt, der mehr als zehnmal so lang gedauert hat, eine größere Schicksalsprüfung darstellt und nicht nur eine längere.
Ein weiterer Faktor: Von allen Unglücklichen, deren Abenteuer bekannt ist, war der Jüngste sechsundzwanzig Jahre alt, also erwachsen. Als er bei den Wilden ankam, war Narcisse achtzehn Jahre alt und mithin noch ein Kind oder ein sehr junger Mann. Welche Rolle hat das gespielt? Konnte er sich den Lebensgewohnheiten, denen er ausgesetzt war, deshalb schwerer entziehen? Ich weiß es nicht.
Es mag natürlich auch noch andere Fälle geben. Gestrandete Matrosen, die von Wilden aufgelesen wurden, zuerst überlebt und auf Hilfe gehofft haben, dann aber irgendwann an Hunger, Krankheit, Verzweiflung oder Alter zugrunde gegangen sind, nach fünf, zwanzig oder dreißig Jahren, ohne je wieder einem Weißen begegnet zu sein. Von ihnen zu erfahren ist unmöglich, diese Tragödien werden auf immer unbekannt bleiben, es sei denn, man entdeckt an einem unbekannten Strand Mischlinge mit blondem oder rotem Haar als einzigen Hinweis auf einen in nördlichen Gefilden Geborenen, der sich ein oder zwei Generationen zuvor dort aufgehalten hat …
Am folgenden Morgen schickte der Portier geflissentlich den Daily Mirror aufs Zimmer. Die Geschichte vom weißen Wilden nahm eine halbe Seite ein. Ich will Ihnen, Monsieur le Président, weder den Artikel noch eine Zusammenfassung desselben zumuten. Jeder Satz ist eine Lüge, jede Einzelheit frei erfunden – mit Ausnahme der Tatsache, dass es sich bei dem weißen Wilden um einen Franzosen handelt. Es war reine Zeitverschwendung gewesen, mit diesem Journalisten zu reden, damit er keinen Unsinn schreibt. Ich faltete die Zeitung zusammen und versuchte, nicht mehr weiter daran zu denken.
Doch hatte leider ganz London diesen Artikel gelesen, und von dem Tag an erhielt ich die unterschiedlichsten und merkwürdigsten Schreiben. Da wünschte eine missionarische Gesellschaft ein Treffen, um über die Verbreitung des Evangeliums im Pazifik zu diskutieren; eine Lady lud den armen Matrosen zum Tee; ein Romanschriftsteller bat mich, ihm alle Einzelheiten seines Schicksals für den nächsten Roman zukommen zu lassen; irgendeinem Wissenschaftler sollte ich die Richtigkeit seiner Theorien bezeugen, die mir gänzlich unbekannt waren …
Der offizielle Vertreter Frankreichs wünschte mich zu sehen, um die Situation unseres Landsmannes zu klären. Mir blieb nicht genug Zeit, seiner Einladung nachzukommen.
Einzig der Vorsitzende der Royal Society of Geography konnte mich überreden. Zum einen berief er sich auf Ihre Freundschaft, Monsieur le Président, und auf seine Rolle als außerordentliches Mitglied unserer Société de Géographie. Zum anderen war er nicht den Erfindungen der Presse aufgesessen und zeigte aufrichtiges Interesse an unserem Freund. Nicht ohne ein wenig Eitelkeit zu verspüren, nahm ich also seine Einladung zum Dinner in Gesellschaft der berühmtesten britischen Entdecker für den gleichen Abend an. Er besaß das Fingerspitzengefühl, es mir zu überlassen, ob Narcisse ebenfalls zugegen sein sollte. Narcisse, gab ich ihm zu verstehen, würde nicht mitkommen. Ich verwies auf seine außerordentliche Schüchternheit und seine mangelhaften Englischkenntnisse; den wahren Grund, dass nämlich die Société de Géographie in Paris das Vorrecht vor jener in London haben sollte, enthielt ich ihm vor.
Am späten Vormittag, als ich immer noch mit jener soeben beschriebenen umfangreichen Korrespondenz beschäftigt war, wünschte der Hoteldirektor mich zu sehen. Er führte mich zum Fenster, und ich sah eine mehrere Hundert Menschen zählende Menge, die sich auf dem Gehsteig zusammendrängte und von der Polizei mühsam unter Kontrolle gehalten wurde. Was wollten all dieseSchaulustigen? Den weißen Wilden sehen. Ob man ihn auf den Balkon führen solle? Unter keinen Umständen, seine Zurschaustellung würde sich wie ein Lauffeuer verbreiten und einen Ansturm weiterer Neugieriger auslösen. Nein, Narcisse solle sich versteckt halten, nicht hinausgehen, man müsse ihn unbedingt von der Menge fernhalten. Diese bedauerliche Situation störte und beunruhigte die Hotelgäste, welche Ruhe und Diskretion wünschten. Noch bevor der Hoteldirektor Gelegenheit hatte, mir zu
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