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Was mit dem weißen Wilden geschah - Roman

Was mit dem weißen Wilden geschah - Roman

Titel: Was mit dem weißen Wilden geschah - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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bedeuten, dass wir unerwünscht waren, begleitete ich ihn zur Tür und beteuerte, dass wir am folgenden Tag abreisen würden.
    Am Nachmittag stahl ich mich mit Narcisse durch eine Hintertür davon, und wir machten einen langen Spaziergang. Ich überhäufte ihn nicht mit Erläuterungen, sondern wollte, dass er sich umsah und das Stadtleben auf sich wirken ließ. Beim Gehen machte er ein unglückliches Gesicht und seufzte jedes Mal, wenn er den Blick zu den vier oder fünf Etagen hohen Gebäuden hob; von allen Seiten wurde er von eiligen Passanten angerempelt. Als wir den Hyde Park durchquerten, beruhigte er sich und lief sichtlich erfreut über den Rasen.
    Dort, wo die Regent Street eine kleine dunkle Straße kreuzt, hielt ein rothaariger Bettler den Vorübergehenden seine Mütze hin. Narcisse blieb vor dem Mann wie angewurzelt stehen, dessen Alter schwer einzuschätzen war. Er hatte einen zerzausten Bart und löchrige Kleider. Narcisse starrte ihn an und provozierte damit irgendwann irisches Gebrummel, das nach einem Almosen verstummte.
    «Was ist, Narcisse? Wollen wir weitergehen?»
    Er überlegte lange, bevor er antwortete:
    «Alle Leute hier in London rennen, er bewegt sich nicht.»
    Wie sollte ich ihm erklären, dass er sich vollständig täuschte? Hätte ich abermals sagen sollen, dass er nichts von dem verstand, was er sah?
    Bei unserer Rückkehr erwarteten uns mehrere Dutzend Briefe.Ich hatte nicht die Nerven, sie alle zu öffnen, und nach dem Tee, der mir zur Gewohnheit geworden ist, nahm ich eine Pferdedroschke und begab mich zur Royal Society.
    Sie kennen diesen prächtigen Ort, seinen Vorsitzenden und die Mehrzahl der Mitglieder – und ich kann bezeugen, Monsieur le Président, dass man Ihnen dort die höchste Wertschätzung und größte Bewunderung entgegenbringt. Als ich die Stufen hinaufschritt, dachte ich an all jene, die vor mir diesen Tempel der Macht und britischen Kühnheit betreten hatten. Man bereitete mir einen Empfang, der nicht nur herzlich, sondern geradezu warmherzig war. Zuerst folgten wir einer Konferenz zur immer noch diskutierten Frage nach den Quellen des Nils. Dann wurde ein leichtes Abendessen aufgetragen, während dessen ich bei andächtigem Schweigen herausragende Details aus dem Leben des wilden Weißen vortrug. Einige intelligente Fragen zeugten von der Aufmerksamkeit meiner Zuhörer. Der letzte Redner an diesem bemerkenswerten Abend fasste den Stand der Kenntnisse über die Nordwestpassage zusammen.
    Die vier Stunden verstrichen äußerst vergnüglich. Jeder der Gentlemen – Händler, Offiziere, Missionare, Langzeitkapitäne … – hatte sich das Recht erworben, hier anwesend zu sein, indem sie einen gefährlichen und unbekannten Teil unseres Planeten erforscht hatten, und an diesem Abend begegneten sie mir wie ihresgleichen. Mein einziger Beitrag hatte darin bestanden, die Geschichte von Narcisse zu erzählen. Dabei beschrieb ich die nordöstliche Küste Australiens und die Stämme, die dort als Nomaden leben – und ich stellte mehr Fragen, als dass ich Antworten gab. Waren die Komplimente, die ich empfing, wirklich gerechtfertigt?
    Heute Morgen, bevor wir den Zug nach Dover nahmen, vertraute Narcisse mir einen weiteren unangenehmen Zwischenfall an, der sich am Abend zuvor ereignet hatte. Ich war sofort alarmiert, denn ich hatte ihn in der Tat zum ersten Mal allein und auf sich gestelltgelassen. Während er im Hotelrestaurant zu Abend speiste, hatte er mit seiner jungen Tischnachbarin Blicke getauscht. Die Deutsche reiste in Begleitung ihres Bruder und eines Onkels. Im Salon plauderten sie alle auf Französisch mit ihm. Ich weiß nicht, was Narcisse ihr anvertraute, aber kurz darauf befand sie sich in seinem Zimmer, wo sich das abspielte, was Sie erraten werden – und dass sie nach und nach Narcisse’ Tätowierungen entdeckte, wird wahrscheinlich zum Entzücken der Dame beigetragen haben.
    Als alles beendet war, tat Narcisse genau das, was ich ihm am Vortag mit dem Zimmermädchen vorgemacht hatte. Er kramte in seinen Taschen und bot ihr galant einige Münzen dar, die ich ihm vorsorglich zugesteckt hatte. Die Deutsche war außer sich und warf sie ihm an den Kopf und verließ, ihn in ihrer Muttersprache verwünschend, das Zimmer.
    «Muss man ihnen nun Geld geben oder nicht?»
    Ich tröstete Narcisse und versuchte gar nicht erst, das Missverständnis aufzuklären. Und ich wundere mich über seinen Erfolg bei Frauen. Er ist sicher gut gebaut und als Mann auf der Höhe seiner

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