Was mit dem weißen Wilden geschah - Roman
sechsunddreißig Jahre, aber man würde ihn nicht als gut aussehend bezeichnen. Sein etwas melancholisches Gesicht und seine Haltung sind nicht außergewöhnlich, und seine Schüchternheit müsste ihm eigentlich ein Hindernis sein. Selbstverständlich kann nur eine Frau beurteilen, worin seine Anziehungskraft besteht. Die einzige Eigenschaft, die mir an ihm auffällt – und die bei mir mitunter ein Gefühl von Peinlichkeit erzeugt –, ist der durchdringende und starre Blick. Er blickt sein Gegenüber mit seltener Eindringlichkeit an und bleibt schweigend in dieser Haltung, ohne die Augen irgendwann abzuwenden. Ist es diese Entschlossenheit, voller Verheißung und Zurückhaltung zugleich, welche Frauen fasziniert?
Doch war das Liebesabenteuer nicht das Entscheidende. Denn seit zwei Tagen schwankte ich zwischen verschiedenen Wegen, auf denen ich Narcisse das mitteilen wollte, was ich vom Bürgermeister aus Saint-Gilles erfahren hatte. Ich musste mich für einen entscheiden, er sollte noch vor seiner Ankunft in Frankreich erfahren, wer er ist. Im Salon des Hotels kam es schließlich zu dem Gespräch, das ich so lange vor mir hergeschoben hatte:
«Erinnerst du dich an Saint-Gilles-sur-Vie, Narcisse?»
Er nickte. Ich kannte die Bedeutung dieser Bewegung, welche mehr Aufmerksamkeit gegenüber dem Gesprächspartner signalisierte als Zustimmung mit dem, was er sagte.
«Ich habe nach Saint-Gilles geschrieben, um zu erfahren, ob vor zehn oder zwanzig Jahren ein Matrose vermisst gemeldet wurde. Ich habe die Antwort erhalten. Du heißt wahrscheinlich Narcisse Pelletier.»
«Narcisse oder Pelletier?»
«Beides. Wir tragen immer zwei Namen, den ersten wählen unsere Eltern, den zweiten nehmen die Kinder vom Vater an.»
«Narcisse, Sohn von Pelletier?»
«Sozusagen. Du wurdest am 13. Mai 1825 in Saint-Gilles geboren. Du warst Matrose auf der Saint-Paul.»
«Der Schoner Saint-Paul», wiederholte er nachdenklich.
Ich wartete darauf, dass diese Namen in seinem «’Sis-Tié-Let-Pol» von vor fünf Monaten Widerhall fänden, aber er äußerte sich nicht weiter.
«Deine Eltern, dein Bruder und deine Schwester leben immer noch in Saint-Gilles. Ich habe sie von deiner Rückkehr in Kenntnis gesetzt. Du wirst Vater und Mutter wiedersehen.»
«Meine Mutter ist tot.»
«Nein, Narcisse, sie wartet auf dich.»
«Meine Mutter … ist nicht tot?»
«Dein Vater, Schuster in Saint-Gilles, und deine Mutter leben beide noch.»
Wie um ein innerliches Getöse zu beruhigen, presste Narcisse seine Fäuste gegen die Schläfen, eine Geste, die ich bei ihm noch niemals beobachtet hatte, und schloss die Augen. Welch ein Ansturm der Gefühle angesichts einer möglichen Rückkehr ins Elternhaus … Das wenigstens nahm ich an. Ohne sich zu rühren, murmelte er vor sich hin:
«Meine Mutter … ist tot. Ich habe es selbst gesehen. Sie ist tot. Ich war dabei.»
Seine Mutter? Von welcher Frau sprach er? Meinte er etwa eine Art Adoptivmutter, irgendeine Wilde, die sich seiner angenommen hatte? Er sprach niemals von seiner persönlichen Beziehung zu den Stammesangehörigen und ebenso wenig von seiner Rolle, die er bei ihnen innehatte. War er ihnen ein Sohn gewesen, ein Diener, ein Dummkopf, Prophet, Prinz im Exil, ein Monster? Er hüllte sich einmal mehr in Schweigen über seine Jahre in Australien, vielleicht wollte er nicht darüber sprechen, vielleicht fand er auch nicht die Worte, um das Durchlittene zu beschreiben. Man durfte ihn auf keinen Fall vor den Kopf stoßen.
«Deine Mutter in Saint-Gilles ist immer noch am Leben und erwartet dich.»
Er verharrte in seiner zusammengekauerten Körperhaltung und sagte leise, wie zu sich selbst:
«Meine Mutter ist tot. Sie war einige Tage lang krank. Viel Hitze, zu viel Hitze in sich. Sie ist tot.»
Er blieb in seinem Schicksal gefangen, es gelang ihm nicht, zu uns zurückzukehren. Meine Rolle war es, seine Erinnerungen und seine Wandlung aufzuzeichnen, aber auch, ihm zu helfen. Ich suchte nach den richtigen Worten.
«Du bist ein Weißer, wie ich. Dein Vater ist ein Weißer, deine Mutter ist Weiße. Sie sind alle beide am Leben. Ich weiß nicht, wer die Tote ist, von der du sprichst. Eine australische Wilde kann nicht deine leibliche Mutter sein. Wenn du sie lieb gewonnen hast und sie dir geholfenhat, während du dort gelebt hast, kannst du von deiner Adoptivmutter sprechen oder, wenn du möchtest, von deiner schwarzen Mutter.»
Bei diesen Worten betrachtete er mich zornig, ja mit einem solchen
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