Was mit Rose geschah
ein Witz sein? Das könnte ich mir sowieso nicht leisten. Ich müsste hundertfünfzig Jahre sparen, bevor ich mir so ein Haus kaufen könnte. Oder zum Chief Superintendent befördert werden. Und hier muss man warten, bis alle gestorben sind, bevor man befördert wird.«
Bevor ich gehe, beugt er sich zu mir, ist redselig geworden vor lauter Kälte und Langeweile.
»Ich bin nicht gern allein hier. Keiner von uns. Hier wurden früher Leute begraben. Vor Jahrhunderten – während der Pest. Die Leute sind so schnell gestorben, dass man sie gar nicht mehr auf dem Friedhof beerdigen konnte, und außerdem gab es kaum noch jemanden, der sie hätte beerdigen können. Man hat sie einfach auf Karren hergebracht und in eine Grube gekippt. Und angezündet. Der Himmel weiß, wie viele Leichen da begraben liegen.«
Er senkt die Stimme, wirkt todernst.
»Die Toten kommen nämlich zurück. Ehrlich. Haben Sie mal einen Geist gesehen?«
Ich glaube, er meint es ernst. Mir läuft unwillkürlich ein Schauer über den Rücken.
»Nein, habe ich nicht.«
»Ich schon. Mein Großvater kam zurück, nachdem er gestorben war. Ich habe ihn gesehen. Sie glauben mir nicht, aber ich weiß, was ich gesehen habe; er stand so deutlich vor mir wie Sie.«
»Oh.« Etwas anderes fällt mir nicht ein.
»Darum bin ich nicht gern allein hier. All die Menschen, dieda begraben sind. Möchten Sie in einem Haus wohnen, das darauf gebaut ist?«
Als ich wegfahre, kommt zaghaft die Sonne hervor. Der Fluss muss am Black Patch etwa einen Meter gestiegen sein. Wie lange dauert es, bis das Wasser abgelaufen ist? Und wie lange, bis der Schlamm fest genug ist, dass die Arbeiten wieder aufgenommen werden können? Ich glaube, so lange kann ich nicht warten.
Da mir nichts Besseres einfällt, mache ich mich auf den Weg, um das zweite Versprechen einzulösen. Die Strecke ist mir inzwischen schon vertraut. Und das Sonnenlicht schiebt sich in langen Strahlen durch die Wolken, als wollte es mir seinen Segen erteilen. Dampf steigt von den feuchten glitzernden Wiesen auf; die Wälder sind von einem tiefen geheimnisvollen Grün. Der Regen hat die übliche Julidürre verhindert; alles sieht frisch und neu aus.
Ich versuche, nicht an den letzten Abend zu denken. Ich kann nicht fassen, dass ich Lulu alles erzählt habe. Und doch bin ich irgendwie froh darüber. Ich bin mir nicht sicher, was ich für sie empfinde. Liebe kann es kaum sein. Man liebt keinen Menschen, den man kaum kennt. Doch diese ungestümen Gefühle verdienen einen würdigeren Namen als »Schwärmerei«. Ich weiß nicht, ob sie je wieder mit mir sprechen wird, aber mein Geständnis hat mich von einer Last befreit. So etwas kann man nicht zurücknehmen. Die Geschworenen können es nicht außer Acht lassen. Man holt sein zerbrechliches Geheimnis aus der Dunkelheit hervor und setzt es dem Licht aus. Man legt es auf den Boden, wo jeder darauf herumtreten kann.
Ich hatte damit gerechnet, dass sie darauf herumtritt.
Nachdem ich sie zu ihrem Wagen gebracht hatte, verabschiedete ich mich. Ich fragte nicht, ob wir uns wiedersehen würden. Sie sagte auf Wiedersehen, ohne mich anzuschauen. Aber sie war im Restaurant geblieben. Sie hätte gehen können – vielleicht auch sollen –, aber sie war geblieben.
Als ich ein paar Stunden später von der Straße abbiege, ist der Stellplatz ausnahmsweise einmal in Sonnenschein getaucht. Er wirkt verlassen, die Wohnwagen sind still, die Türen geschlossen. Ich klopfe bei Ivo an. Keine Antwort. Die Tür ist verriegelt. Absolute Stille. Kein Auto zu sehen. Dann klopfe ich bei Tene und frage mich schon, was ich als Nächstes tun soll, als eine raue Stimme von drinnen ruft: »Wer ist da?«
»Hier ist Ray. Ray Lovell.«
»Kommen Sie rein! Kommen Sie rein. Es ist offen.«
Auf den ersten Blick sieht der Wohnwagen leer aus. Dann bewegt sich etwas – Tenes Hand –, und er winkt mir vom Boden neben dem Rollstuhl zu.
»Alles in Ordnung. Kein Problem. Bin nur gefallen. Stecke fest.«
»Bewegen Sie sich nicht. Was ist passiert?« Ich knie mich neben ihn.
»Ich wollte in den Stuhl und … «
»Nicht aufstehen. Schon gut …«
Er zerrt an seinem Hosenbund. Ich bemerke, dass der Schlitz offen steht. Vermutlich war er auf der Toilette, als er gestürzt ist, und weil es ihm zu peinlich war, so gefunden zu werden, hatte er sich irgendwie ins Wohnzimmer geschleppt. Als ich bei Eddie Arthur anfing, bestand er darauf, dass ich einen Erste-Hilfe-Kurs besuche. Ich versuche, mich an die
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