Was mit Rose geschah
haben, einfach über uns bestimmen?«
»Sie können es eben, Schatz.« Mama klingt müde.
Großmutter beugt sich vor. »Ivo ist einfach immer davongekommen. Tene hat ihm mehr geholfen, als ihr ahnt, mit Geld und so – sonst wäre er schon lange in Schwierigkeiten. Und wir dürfen jetzt die Scherben aufsammeln.«
»Christo ist keine ›Scherbe‹.«
»Du weißt, was sie meint, JJ.«
Lulu klingt als Einzige noch halbwegs ruhig. Sie wendet sich zu Großmutter, die an ihrer Rothmans saugt wie ein Baby an der Flasche. »Was meinst du, Kath?«
Großmutter stößt den Rauch durch die Nase aus. »Ich verstehe nicht, weshalb du ihn nicht nehmen kannst, Lu. Du hast doch ein Haus.«
Tante Lulu zündet sich ebenfalls eine Zigarette an. Zum Glück raucht Mama nicht, sonst könnten wir hier drinnen nicht mehr atmen.
»Ich weiß nicht, ob das für ihn so gut wäre, Kath«, sagt Lulu. »Er kennt mich nicht so gut wie euch. Ich meine …«
»Mama, wir müssen ihn nehmen! Ich habe ihn lieb – und du auch. Und er wäre glücklich bei uns. Ich würde überall wohnen – wir können immer die Fenster aufmachen, und wenn wir am Stadtrand wohnen, wird es gar nicht so schlimm … Du musst ja sagen, Mama, verstehst du das denn nicht?«
Mama zuckt mit den Schultern; sie sieht wirklich müde aus. Plötzlich wird mir klar, dass sie Tag und Nacht daran gedacht hat – vermutlich schon eine ganze Weile. Ich springe auf und umarme sie.
»Christo hat eine Mama wie dich verdient. Schon immer.«
»Ach, mein Schatz.« Sie vergräbt ihr Gesicht an meiner Schulter. Ich spüre, wie ihre Rippen unter meinen Händen zucken – sie stößt einen zitternden Schluchzer aus. Ich kann nicht glauben, dass ich sie jemals angeschrien habe.
»Ich dachte, ich müsste nie wieder in einem Haus wohnen …«
»Es wäre wirklich gut, wenn das ginge, Sandra«, sagt Tante Lulu, deren Stimme plötzlich warm und begeistert klingt. »Ich helfe euch bei allem. Einrichtung und so weiter.«
Mama scheint kurz davor, nachzugeben. Sie sprechen weiter darüber – und die Gewissheit, dass Christo zu uns kommt, wächst. Dann bietet Lulu ihnen an, in ein Pub zu fahren. »Jetzt haben wir uns was zu trinken verdient.«
Ich finde, Mama hat es verdient. Ich bleibe zu Hause, um ein Auge auf Großonkel zu haben. Mama lächelt mir zu. Lulu küsst mich auf die Wange und sagt, Mama könne stolz auf mich sein. Erst als ich viel später in den Spiegel sehe, bemerke ich den blöden roten Lippenstiftfleck auf meiner Wange und wische ihn ab.
45
Ray
Die Spurensicherung ist wieder da – in ihren weißen Plastikoveralls und Überschuhen sehen sie aus wie Astronauten aus dem Sonderangebot, die durch eine trostlose Mondlandschaft kriechen. Das Wasser hat seltsame Spuren auf dem Gelände hinterlassen: eine gewundene Vertiefung wie eine Schlange, die sich fast bis zur Zeltwand schlängelt und dann abrupt in eine andere Richtung davongleitet; überall liegt Müll herum – ein Traktorreifen, Futtersäcke aus Plastik, ein verbogener Kinderwagen, zerbrochene Äste. Die Erde ist gespickt mit kleinen formlosen Hügeln; einer ganz in der Nähe ist mit Pelz bedeckt. Der Schlamm lässt alles braun und öde aussehen.
Hen ist zum ersten Mal auf dem Black Patch. Wir werden nichts Brauchbares finden, aber ich kann einfach nicht die Finger davon lassen. Wenigstens werden wir so erfahren, ob die Polizei mehr weiß, als sie sagt. Die Arbeiten seien gerade erst wieder aufgenommen worden, wird behauptet, und man müsse nach dem Hochwasser ganz von vorn beginnen. Allein die genaue Fundstelle der Knochen wiederzufinden erweise sich als schwierig. Mittlerweile glaube ich das gern. Das improvisierte Grab dürfte vollkommen überflutet sein.
DI Considine ist nicht da, und die Rechtsmedizinerin, von oben bis unten mit Schlamm bespritzt, die mit uns reden soll, will verhindern, dass wir das Gelände betreten. Man werde uns auf dem Laufenden halten.
Dann kommt ihr ein Gedanke. »Diese vermisste Person …«
Wir nicken.
»Haben Sie Informationen über Erkrankungen oder Verletzungen?«, erkundigt sie sich.
»Wir könnten danach fragen. Haben Sie etwas gefunden?«
»Einer der Armknochen weist einen alten Bruch auf – einen Grünholzbruch, einen Bruch also, der sich ereignet hat, bevor das Knochenwachstum abgeschlossen war. Er ist nicht sehr gut verheilt. Erkundigen Sie sich nach einem Unfall in der Kindheit.«
»Welcher Arm?«
»Der rechte. Die Speiche. Etwa hier.« Sie legt Daumen und Zeigefinger wie
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