Was mit Rose geschah
Holztäfelung an den Wänden. Die Fenster sind makellos, die Stühle mit einem hellgrünen Stoff bezogen.
»Sie haben es hübsch.« Ich meine es ehrlich.
»Vielen Dank … Hier ist es.«
Sie öffnet ein Adressbuch und schreibt sorgfältig eine Adresse ab. »Vielleicht ist er bei ihr.«
Sie reicht mir ein Stück Papier, das aussieht, als hätte sie es aus einem Heft ihres Sohnes gerissen.
»Danke. Oder ist er vielleicht bei seiner Freundin?«, sage ich so beiläufig wie möglich, aber das macht wohl keinen Unterschied; ihre ohnehin schon blassen Lippen werden noch blasser; ihre Augen ziehen sich nach innen zurück: dunkle Löcher in Asche. Ihre Lippen bewegen sich lautlos.
»Ivo hat keine Freundin.«
»Oh? Ich dachte … jemand hätte gesagt …«
»Nein, ich … nein. Das hätten wir erfahren. Ich hätte es erfahren.«
Sie versucht zu lächeln, sieht aber angeschlagen aus.
Oh, denke ich. Oh …
»Na gut … dann muss ich mich wohl geirrt haben.«
Ich falte den Zettel mit Lulus Adresse zusammen und stecke ihn sorgfältig in die Brusttasche.
»Stehen Sie und Ivo einander nahe? Meinen Sie, er wird sich bei Ihnen melden?«
Sie sieht mich mit offenem Mund an, bevor sie zu dem Schluss gelangt, dass ich das mit dem Nahestehen wohl im familiären Sinn gemeint habe. »Davon gehe ich aus.«
Dennoch schaut sie betrübt zu Boden, die Arme schützend vor dem Körper verschränkt.
»Gibt es noch andere Cousins oder Cousinen?«
Jetzt runzelt sie die Stirn; ich mache ein bisschen viel Druck. »Wir haben noch welche in Irland … wieso?«
Ich zucke mit den Schultern. »Ich bin selbst zur Hälfte Rom. Bei uns gibt es eine Menge Cousins und Cousinen.«
Sie starrt mich an; ich könnte mich in den Hintern treten. Hen hat recht, ich sollte mich still zu Hause hinsetzen, bis ich meinen Verstand wieder beisammen habe.
»Nicht in unserer Familie, Mr Lovell.«
Dann höre ich zu meiner großen Erleichterung Hens Motor. Ich stolpere nach draußen, entschuldige mich und danke ihr. Sie schließt mit einem kurzen Blick die Tür, ohne sich zu verabschieden.
44
JJ
Ich erkenne sie nicht – die kleine, dünne, zurechtgemachte Frau mit dem klapprigen Auto, die gerade an unsere Tür gehämmert hat.
»Du musst JJ sein«, sagt sie.
»Ja …?«
Sie mustert mich von oben bis unten. »Was ist mit deinem Arm passiert?«
»Hab mich geschnitten.«
»Du siehst aus wie dein Urgroßvater. Hat dir das schon mal jemand gesagt? Ich bin deine Großtante Lulu. Du kannst dich nicht an mich erinnern.«
Eine Feststellung. Aber sie lächelt dabei.
»Irgendwie schon …«
Das ist also meine Großtante Lulu. Ich habe sie seit Jahren nicht gesehen. Seit einer Ewigkeit. Sie hat schwarzes Haar und blasse Haut und trägt leuchtend roten Lippenstift; ihre Kleidung ist schick und enganliegend. Sie sieht aus, als gehörte sie in die Stadt, wo sie mit ihren hochhackigen glänzenden Schuhen auf saubere Gehwege treten kann, nicht hier aufs Land in den Schlamm.
»Du musst nicht so tun als ob, es macht mir nichts aus. Ich kenne dich ja auch kaum – du warst erst acht oder so, als wir uns das letzte Mal gesehen haben. Ich habe mich nicht ganz so verändert wie du – na ja, vielleicht doch.«
Sie zuckt mit den Achseln und lächelt. Und ihr Lächeln steckt an. Ich kann mir kaum vorstellen, dass sie Großmutters undGroßonkels Schwester sein soll – sie sieht viel jünger aus als die beiden. Natürlich ist sie die jüngste Schwester, aber trotzdem.
»Möchtest du zu Großonkel? Das ist sein Wohnwagen.« Ich deute auf den mit der Rampe vor der Tür.
Sie seufzt schwer. »Ich möchte zu euch allen. Ihr wisst nicht zufällig, wo dein Onkel Ivo ist?«
Der Name lässt mich immer noch erschauern.
»Nein. Wir dachten, er sei in London.«
»Wir müssen dringend miteinander reden.«
Wie sich herausstellt, ruft das Krankenhaus ständig bei ihr an, damit sie Christo abholt. Anscheinend können sie im Augenblick nichts mehr für ihn tun, und er ist nicht krank genug, um dortzubleiben. Das ist wohl die gute Nachricht. Natürlich wäre es dem Krankenhaus lieber, wenn Ivo ihn abholte, aber sie können ihn auch nicht finden. Die schlechte Nachricht ist, dass sie Christo in Pflege geben, wenn wir ihn nicht abholen. Also müssen wir entscheiden, was zu tun ist.
Lulu schaut uns alle der Reihe nach an – das heißt Mama und Großmutter und mich, weil ich mich ausnahmsweise geweigert habe, draußen zu bleiben. Großvater ist irgendwo unterwegs (vielleicht,
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