Was mit Rose geschah
von uns?« Mamas Stimme ist nur ein Krächzen.
»Es geht sehr schnell. Und tut gar nicht weh. Für Christopher wäre es eine große Hilfe. Und für Sie natürlich auch.«
»Wir … natürlich wollen wir helfen.« Sie klingt skeptisch.
»Sie können zu Ihrem Hausarzt gehen oder es hier erledigen.«
Er scheint fertig zu sein, ohne zum eigentlichen Punkt gekommen zu sein.
»Aber können Sie ihn heilen?«
Der Arzt lächelt mich an. Aber in seinem Lächeln liegt keine Hoffnung. Da hätte er es lieber lassen sollen.
»Bei Erbkrankheiten ist eine Heilung sehr schwierig oder sogar unmöglich. Das wäre so, als wollten Sie Ihre Augenfarbe ändern. Aber wir können einige, vielleicht sogar viele Symptome lindern, so dass Christopher eine gute Lebensqualität hat. Jedenfalls besser als jetzt. Doch bis wir genau wissen, worum es sich handelt, können wir damit nicht anfangen.«
»Also … Sie können ihm vielleicht helfen? Wenn Sie es irgendwann wissen …«
Die Augen des Arztes wandern von Mama zu mir und wieder zurück. »Das ist richtig. Aber Sie sollten sich keine Hoffnungen auf eine Heilung machen.«
Als wir auf Christos Station kommen, sitzt jemand neben seinem Bett. Tante Lulu ist zu Besuch. Als sie uns sieht, springt sieauf, ihr Gesichtsausdruck verändert sich, und sie hält uns ein Blatt Papier hin.
»Das hat eine Krankenschwester gerade gebracht«, flüstert sie zischend. Ich merke sofort, dass sie wütend ist. »Verdammt, ihr werdet es nicht glauben, das ist ein Brief von Ivo, diesem Mistkerl!«
Und das steht in dem Brief:
MEIN LIEBER CHRISTO
TUT MIR LEID DAS ICH WEG MUSSTE ICH WOLLTE NICHT ABER ICH MUSSTE ICH WEISS DAS SANDRA UND DEIN KUSIN SICH GUT UM DICH KÜMMERN DU HAST WAS BESSERES ALS MICH VERDINT ALSO MACH DIR KEINE SORGEN ICH LIEB DICH IMMER AUS GANZEM HERZEN LIEBER JUNGE ICH LIEB DICH FÜR IMMER VIELE KÜSSE UND UMARMUNGEN
PS TUT MIR LEID
Was sagt man dazu? Mehr steht nicht da. Ivos Abschiedsbrief an Christo. Lulu drückt ihn Mama in die Hand, und sie liest ihn, wobei ich ihr über die Schulter schaue. Ich erkenne Ivos Handschrift, die Großbuchstaben, und seine Rechtschreibung.
»Ist er wirklich von ihm?«
Wir nicken beide. Der Umschlag ist an Christo im Krankenhaus adressiert. Er wurde vor drei Tagen im Südosten von London abgeschickt.
»Sollen wir ihm das vorlesen? Das ist doch … grausam. Es ist …«
Mama klingt entsetzt. Lulu seufzt.
»Aber es ist so, wie wir es uns schon gedacht haben. Jetzt wissen wir wenigstens Bescheid. Und du hast seinen Segen.«
Sie sagt es mit einem frostigen Lächeln, weil wir alle genau wissen, dass Ivos Segen überhaupt keine Rolle mehr spielt.
»Der tickt wohl nicht richtig. Oh …«
Mama zittert vor Wut. Wir stehen immer noch alle auf der Schwelle von Christos Zimmer, also kann er uns vermutlich nicht hören. Wir sehen ihn an. Er schaut zurück, ruhig und wachsam. Ich frage mich, ob er schon weiß, was in dem Brief steht. Er war der Letzte, der Ivo gesehen hat – es kann nicht anders sein. Ich frage mich, was Ivo zu ihm gesagt hat, bevor er gegangen ist – vielleicht die Wahrheit, dann weiß Christo mehr als wir alle.
Ich trete an sein Bett und nehme seine Hand. Meine Fingerspitzen verhaken sich mit seinen kleinen Fingern, und dann frage ich: »Alles in Ordnung?«
Und er sagt ganz deutlich: »Alles in Ordnung.«
53
Ray
In den nächsten Tagen klebe ich an meinem Schreibtisch. Ich telefoniere, überprüfe Unterlagen, stelle Nachforschungen an, bitte um Gefallen. Wir haben eine Belohnung für Informationen ausgesetzt – machen uns allerdings keine großen Hoffnungen. Ich rede mit allen möglichen Leuten aus dem Milieu der Fahrenden – mit Verwandten, die ich seit Jahren nicht gesehen habe; mit entfernten Angehörigen von Rose; sogar mit meinem Bruder, ein verlegenes Gespräch. Die meisten versprechen, noch einmal darüber nachzudenken. Sich umzuhören. Einige rufen sogar zurück. Mein Bruder erwägt einen Besuch, sollte es der Staubsaugerverkauf erlauben.
Doch letzten Endes finde ich keine passende Kandidatin, die Christos Mutter sein könnte. Keine junge Frau aus der Gemeinschaft der Fahrenden ist auf geheimnisvolle Weise verschwunden. Keine junge Frau im richtigen Alter galt in jenem Teil des Landes als vermisst. Realistisch betrachtet könnte jedwede Frau Christos Mutter sein – auch eine gorjie aus der Nachbarschaft, die sich nicht um ihr Kind kümmern konnte oder wollte. Es gibt so viele Möglichkeiten – so viele Rätsel: die
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