Was mit Rose geschah
allesamt lieber zu stehen scheinen, als sich auf einen freien Platz zu setzen. Der eine oder andere huscht während des kurzen Gottesdienstes nach draußen, um eine zu rauchen und zu plaudern. Einige gehen gar nicht erst hinein.
Danach warte ich am Rand der Trauergemeinde, bis die Jankos die Beileidsbekundungen entgegengenommen haben. Während ich dort möglichst unauffällig herumlungere, tauchtJJ neben mir auf. Er sieht steif aus in seinem schwarzen Anzug. Das Haar hat er zu einem Pferdeschwanz gebunden. Er wirkt ganz anders – erwachsener.
»Hallo, Mr Lovell.«
»Hallo, JJ.« Ich gebe ihm die Hand.
»Danke, dass Sie gekommen sind.« Er klingt aufrichtig.
»Nichts zu danken. Du siehst sehr elegant aus. Das mit deinem Onkel tut mir wirklich leid.«
»Mein … ach so, Sie meinen Großonkel. Danke.«
Es scheint ihm gut zu gehen – er wirkt selbstbewusster als früher. Vielleicht ist er gewachsen, oder es liegt am Anzug und der Frisur; man kann sehen, was für ein Mann einmal aus ihm werden wird. Er erzählt mir, dass sie mit Christo in ein Haus ziehen wollen. Dass Christo gute Fortschritte macht.
»Sie gehen doch noch nicht, oder?«, fragt er. »Tante Lulu will mit Ihnen reden.«
Das Blut rauscht in meinen Ohren, als er das sagt.
Sie hat also mit ihnen über mich gesprochen. Was hat sie gesagt? Er lässt mich auf dem Friedhof stehen, während sich die Menge allmählich zerstreut, in Pkw und Transporter steigt und zum Pub fährt.
Ich stehe unschlüssig da und frage mich, ob sie mich vielleicht übersehen und wegfahren oder, schlimmer noch, ob sie mich sehen und dennoch wegfahren wird. Doch dann löst sie sich endlich aus der Menge an der Kirchentür und kommt zu mir. Sie lächelt nicht, aber ich lächle ihr zu; ich kann nicht anders.
»Gehen wir hier entlang«, sagt sie und führt mich zu einem breiten Weg, der zwischen den Reihen der Grabsteine hindurchführt.
»Wie geht es Ihnen?«
»Ganz gut. Danke, dass Sie gekommen sind.«
»Danke für die Einladung. Mein Beileid wegen Ihres Bruders. Eine schreckliche Tragödie.«
Ein Wohnwagenbrand. So etwas kommt vor. Ich habe dann und wann davon gehört. Die kleine Cousine meiner Großmutter starb an ihren Verbrennungen, nachdem ihr Kleid Feuer gefangen hatte. Aber der Zeitpunkt von Tenes Tod – so kurz, nachdem er das von Ivo und Rose gehört hatte – kann eigentlich kein Zufall sein. Doch auch danach kann ich nicht fragen. Nicht hier.
Lulu holt ihre Zigaretten aus der Tasche – einer schwarzen Ledertasche, die zum Anlass passt, aber fast so geräumig ist wie die andere – und findet nach einigem Suchen auch ihr Feuerzeug.
»Er hätte nicht mehr lange so weiterleben können. Vielleicht ist es besser so, selbst wenn …« Sie zuckt mit den Schultern und zieht erleichtert an der Zigarette.
Bei manchen Leuten sieht Rauchen gut aus. Lulu gehört dazu. Heute trägt sie schwarze Schuhe mit breiten Absätzen. Dazu ein schwarzes Kostüm, das an die Vierzigerjahre erinnert. Ihr Lippenstift sieht frisch aus und ihr Haar irgendwie anders; vielleicht heller, eine neue Farbe, mit bronzefarbenen Strähnchen, die das Schwarz auflockern.
Sie wirkt unerreichbar, vollkommen, schön.
»Ich habe mich immer gefragt, was Sie in Ihrer Handtasche haben.«
Sie schaut mich an. »Ach, allen möglichen Kram. Für alle Fälle.«
»Allzeit bereit?« (Was um Himmels willen rede ich da?)
»Genau.«
Ihre Schuhe knirschen auf dem Betonweg. Ich könnte ewig zuhören.
»Ich muss mich noch in aller Form bei Ihnen entschuldigen«, sagt sie.
»Nein … Wieso?«
Sie wirft die Kippe hinter einen Grabstein – Ann Mendoza, gestorben 1923 – und wühlt nach der nächsten Zigarette.
»Ich habe mich so schrecklich gefühlt. Weil ich es Ivo gesagthabe – Sie wissen schon. Das war dumm von mir. Ich wollte … ich konnte nicht glauben, dass er so etwas machen würde. Jetzt schon. Jetzt glaube ich alles. Aber dass er Ihnen so etwas antun würde …«
»Ich war derjenige, der sich schrecklich benommen hat. Sie brauchen kein schlechtes Gewissen zu haben. Ich hätte es ihm sowieso gesagt, es war vollkommen egal.«
Manchmal ist eine Lüge besser.
»Ich habe mir solche Sorgen gemacht. Ich dachte, Sie würden sterben.«
Ich schließe die Augen, um es auszukosten. Der wunderbarste Satz, den ich je gehört habe. Die Schritte verstummen. Als ich die Augen öffne, schaut sie mich an.
»Nun, ich bin nicht gestorben.«
Die kleine Falte sitzt hartnäckig zwischen ihren Augenbrauen.
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