Was mit Rose geschah
haben.
Es ist schon halb fünf und die letzte Unterrichtsstunde eine Weile vorbei. Es regnet. Es scheint seit dem Frühjahr pausenlos zu regnen, und jetzt haben wir schon Juni. Die Zeitungen schreiben dauernd von einem Rekord oder so. Großmutter soll mich heute abholen, aber bis jetzt ist keins unserer Autos zu sehen. Ich setze mich auf die Mauer neben dem Schultor. Die Bäume am Rand des Sportplatzes geben ein bisschen Schutz, aber es bringt nicht viel, wenn der Wind den Regen unter den Blättern hindurch genau auf mich bläst. Ich mache die Augen zu und stelle mir vor, es würde nicht regnen, und als das nicht funktioniert, stelle ich mir einen warmen Regen vor, wie die Dusche im Schwimmbad, die ewig läuft, wenn man immer wieder den Knopf drückt. Super. Wenn ich erst in Frankreich wohne, lege ich mir auch so eine Dusche zu. Da ist es sowieso immer wärmer als hier. Obwohl wir Juni haben, ist der Regen verdammt kalt. Meine Haare sind nass, und das Wasser läuft mir in den Nacken,was gar nicht angenehm ist. Dann fällt mir ein, worüber einige Leute in der Schule geredet haben: dass es ein Killerregen ist. Dass er voller Gift ist wegen der Explosion in Russland und man Krebs davon bekommt. Wenn das stimmt, ist es vermutlich ohnehin zu spät. Er wirkt allerdings nicht anders als normaler Regen. Er schmeckt auch so – nach nichts. Ich stelle mir vor, dass ich Krebs bekomme und sterbe. Würde Stella wohl zu meiner Beerdigung kommen? Würde sie weinen?
Ich muss wohl irgendwie weggetreten sein, denn als ich die Augen aufmache, steht ein schwarzer Range Rover vor mir. Der einzige Mensch, den ich mal in so einem Auto gesehen habe, ist Katie Williams, aber die Fenster sind getönt, so dass ich nicht sehen kann, wer drinsitzt. Dann bewegt sich das Fenster an der Fahrerseite mit einem elektrischen Summen nach unten. Eine Frau mit nettem Gesicht und teurer Strähnchenfrisur lächelt mich an.
»Hat man dich vergessen?«
Ich bin geschockt, weil jemand Fremdes mit mir spricht, und schüttle heftig den Kopf. Dann beugt sich der schimmernde Kopf von Katie Williams vom Rücksitz vor.
»Wir nehmen dich mit, JJ. Steig ein.«
Katie Williams hasst mich doch – das habe ich jedenfalls angenommen. Erstaunlich. Es muss ein Witz sein. Sie hat sicher etwas Schreckliches vor, und alle werden mich auslachen. Wie bei der Sache mit den Würstchen.
»Schon gut. Ich warte auf meine Großmutter. Sie kommt gleich. Danke.«
»Aber du wartest doch schon seit einer Ewigkeit! Ich habe dich schon gesehen, als ich Katie vom Oboenunterricht abgeholt habe – das war vor zwanzig Minuten.«
Mrs Williams sieht nett und besorgt aus. Ich komme mir wieder vor wie ein kleiner Junge, um den man sich kümmern muss. Das ist eigentlich ganz schön.
»Sie ist nur ein bisschen spät dran. Sie kommt sicher gleich.«
»Du bist völlig durchweicht! Du holst dir noch den Tod.«
»Schon gut. Wirklich. Mir ist gar nicht kalt.«
»Dir klappern doch die Zähne. Wir können dich nicht hierlassen …«
Gemurmel im Wagen.
»Katie sagt, du wohnst an der Eastwick Road. Das ist kein großer Umweg für uns. Und wenn sich deine Großmutter verspätet hat … ein Problem mit dem Auto oder so … dann erkläre ich es ihr. Keine Sorge …«
Die Tür steht offen, und obwohl ich immer wieder sage, dass es mir gut geht, steige ich trotzdem in den Range Rover, wie hypnotisiert von der Macht des Geldes oder was auch immer. Die Sitze sind aus weichem, quietschigem Leder, und ich habe schon Angst, sie zu ruinieren. Drinnen fühle ich mich hundertmal besser als draußen. Katie, trocken und gepflegt und nach Erdbeer-Lipgloss duftend, schaut geradeaus, kaut Kaugummi und beachtet mich nicht. Woher weiß sie, wo ich wohne? Hat Stella es ihr erzählt? Was hat sie gesagt? Schon bei dem Gedanken wird mir ganz heiß und schlecht. Andererseits verspüre ich bei der Vorstellung, dass sie von mir erzählt hat, ein seltsames Kribbeln.
Im Autoradio läuft leise klassische Musik – viele Leute singen auf eine Weise, die mich an eine Armee erinnert, die in getragenem Tempo dahinmarschiert, zwischen jedem Schritt eine kurze Pause macht.
»Hast du schon Jane Austen gemacht?«
Katie spricht, ohne mich anzusehen – ich spüre es eher, als dass ich es weiß, weil ich sie auch nicht ansehe.
»Hm. Nein. Noch nicht.«
»JJ ist wirklich gut in Englisch«, verkündet Katie plötzlich und zu meiner absoluten Überraschung.
Mrs Williams dreht sich nach hinten um. »Ich wünschte, du könntest
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