Was mit Rose geschah
ältere Dame kommt herein. Das kann nur die Mutter des Mannes sein – das gleiche Gesicht bis hin zu der spitzen Nase und den geschwungenen Augenbrauen. Sie reden kurz miteinander, alle lächeln und lachen, dann geht sie wieder hinaus. Sie scheinen sehr glücklich zu sein – warum, weiß ich nicht. Einen Moment lang konzentriere ich mich darauf, herauszufinden, wohin die ältere Frau wohl gegangen ist. Ich meine, die Haustür zu hören. Das würde Sinn ergeben: Die bezahlte Hilfe ist da, damit Mami ihre wohlverdiente Pause bekommt – Sherry, Bridge, Schulausschuss, was auch immer. Ich halte die Luft an, falls sie auf die Idee kommen sollte, den Garten zu betreten, aber das tut sie natürlich nicht.
Lulu hält ihrem Schützling die Tasse hin. Sie lächelt – sie machen eine Pause und reden miteinander. Ich sehe nur eine Hälfte seines Gesichts, weil Lulus Kopf dazwischen ist. Plötzlich reißt er den Kopf weg, und ein braunes Rinnsal läuft ihm über das Kinn. Er lächelt, offenbar verlegen, und sie beugt sich vor und wischt es weg. Doch statt nach dem Tuch, das neben ihr auf dem Tablett liegt, zu greifen, wie man es erwarten würde, macht sie es mit dem Finger. Nur mit dem Finger. Er lächelt wieder. Den Ausdruck auf ihrem Gesicht kann ich nicht deuten.
Dann hebt sie die Tasse wieder an seinen Mund und kippt sie leicht. Irritierenderweise das Gleiche erneut. Ich halte die Luft an, sorge mich um sie, denke, wie ungeschickt, dieses Mal wird er die Geduld verlieren – sogar wütend werden. Das Rinnsal läuft ihm über das Kinn und am Hals hinunter bis zum Hemdkragen. Er schaut sie an, doch sie macht keine Anstalten, es wegzuwischen.Sehr seltsam. Dann, ich traue meinen Augen kaum, beugt sie sich vor und – es sieht aus, obwohl ich mir nicht ganz sicher bin – es sieht so aus, als ob sie ihm das Rinnsal von Hals und Kinn leckt . Es geht so schnell, ich muss es mir eingebildet haben. Wie kann so etwas sein?
Gleich darauf sitzt sie wieder auf ihrem Stuhl, und alles scheint ganz normal. Dann begreife ich auch, wieso – die Wohnzimmertür geht auf, und die ältere Frau steckt den Kopf herein. Sie scheint zu lachen, vielleicht hat sie etwas vergessen. Lulu und ihr Rollstuhlfahrer lachen auch. Was für ein fröhliches Trio. Zum Schreien. Die Mutter geht wieder hinaus. Diesmal folgt Lulu ihr und lässt ihn allein. Ich schaue ihn an – wer ist dieser Mann? Was für ein krankes Theater ist das hier? Hat er sie irgendwie in der Hand, dass er sie zu so etwas zwingen, sie demütigen kann? Lulu kommt zurück und schließt die Tür. Ein Lächeln auf dem Gesicht. Sagt etwas. Dann räumt sie Tablett, Schnabeltasse und Tuch auf den Tisch neben der Tür und schiebt den Rollstuhl etwas näher ans Feuer. Sie beugt sich hinunter, um die Bremse einzulegen, und schwingt fast im selben Augenblick ein Bein über seinen Schoß, so dass sie auf ihm sitzt, das Gesicht ihm zugewandt. Er legt den Kopf so weit wie möglich zurück. Ich starre auf ihre Wirbelsäule, die sich unter dem T-Shirt abzeichnet, auf ihre roten hochhackigen Schuhe. Es sind dieselben, die sie getragen hat, als sie sich mit mir getroffen hat. Ich sehe den Abrieb an den Sohlen und die schimmernden Nägel neuer Absätze. Sie muss diese Schuhe wirklich lieben. Sie schiebt sich näher an ihn heran – er kann natürlich nur dasitzen – und beugt sich vor, um ihn zu küssen.
Soweit ich es erkennen kann, küsst er sie zurück. Mit seinem Kopf scheint also alles in Ordnung zu sein.
Ich atme schwer, zerdrücke eine Handvoll Blätter zu einem glitschigen, scharf riechenden Brei. Mir ist schlecht. Und heiß. Ich schäme mich. Deshalb bin ich nicht hergekommen. So sollte es nicht sein.
Wie sollte es denn sein, Ray?
Wenn zwei Menschen im selben Rollstuhl sitzen, sollten alle anderen gehen. Was ich auch tue.
Ich warte nicht ab, um zu sehen, wann sie das Haus in Richmond verlässt. Ich fahre davon, wobei meine Reifen bockig quietschen. Das Quietschen heißt so viel wie: scheißegal. Ich weiß nicht, weshalb ich gekommen bin. Ich bin nicht interessiert. Ich versuche nur, mir einzureden, ich sei über Jen hinweg; ich suche mir sogar eine Frau aus, die ihr ein bisschen ähnlich sieht, Herrgott noch mal. Wie dämlich. Ich habe überhaupt nicht nachgedacht. Ich Idiot.
Zu Hause sitze ich im dunklen Wohnzimmer, schaukle im Schaukelstuhl, einen Wodka Tonic in der Hand, klammere mich an den Rand des Abgrunds, schaue durch die Blätter der Eschen, die die Bahnstrecke oberhalb der
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