Was mit Rose geschah
Telefonzelle fahren lassen.
»Ich habe nachgedacht. Sie sollten vielleicht doch mit Ivo reden.«
»Ja, gut. Wo ist er denn?«
Meine diesbezüglichen Nachforschungen haben nichts ergeben. Ich hatte schon befürchtet, er sei ähnlich schwer zu finden wie seine Frau.
»Bei uns. Morgen. Falls Sie rüberkommen wollen.«
»Am selben Ort?«
»Am selben Ort.«
»Gut, dann komme ich so gegen … elf.« Ich lege auf. »Wieso ruft er mich jetzt an?«
»Vielleicht ahnt er, dass du misstrauisch bist.«
»Sie werden ihre Geschichten aufeinander abstimmen.«
»Soll ich mitkommen?«
Ich schüttle den Kopf.
»Immer mit der Ruhe.«
Ich denke an Lulu Janko – ob sie noch einmal mit ihrem Bruder gesprochen hat?
Vielleicht ist mir die blöde Idee beim Mittagessen gekommen. Hens sanftes Bohren bezüglich meiner geheimnisvollen Verabredung am Abend – die natürlich erfunden war – und der Wein ergaben eine ausgesprochen ungesunde Mischung. Mein Vater sagte mal in einem der seltenen Augenblicke, in denen er nicht den Fernseher anbrüllte: »Finde heraus, was du gut kannst, und mach es.«
Na schön, dachte ich über der halben Flasche Burgunder (Hen trank Wasser) und dem mit Austern gefüllten Steak, das er mir unbedingt als Geburtstagsgeschenk ausgeben wollte. Na schön, das werde ich.
Hier bin ich nun, Stunden später, und mache vor einem Haus in Richmond das, was ich gut kann. Es ist ein großes dreistöckiges Gebäude mit eleganter Fassade und einem schmiedeeisernen Balkon im ersten Stock. Bodentiefe Fenster mit schweren Vorhängen. Der Vorgarten ein dezenter immergrüner Dschungel.
Zuerst saß ich mit einem Teleobjektiv im Auto, aber die Einfahrt ist zu lang und das Gebüsch zu dicht, um den neidischen Blick eines Proleten durchzulassen. Also warte ich, bis es dunkel wird, schlüpfe in die Einfahrt und verschmelze mit der Dunkelheit der Büsche – große, einladende Rhododendren und Kamelien. Aus dem Himmel fließt dunkles Indigo, macht mich zum blauen Schatten im Halbdunkel. Die Stunde zwischen Hund und Wolf. Was davon bin ich?
Nur im Erdgeschoss brennt Licht. Oben ist alles dunkel. Ich muss mich durch den dichten Dschungel zur Hinterseite des Hauses kämpfen, wo durch zwei hohe Fenster Licht auf einen ungepflegten Rasen und düsteres Buschwerk fällt. Der Garten wirkt, als würde ihn niemand je betreten oder beachten. Na ja, denke ich mir, er gehört ja auch einem alten kranken Menschen. Einem Menschen, der eine private Pflegerin benötigt und sich eine leisten kann.
Ich bin Lulu Janko gefolgt, habe gewartet, bis sie ihr Haus verließ, und bin ihrem winzigen beigefarbenen Fiat mit dem praktischerweise kaputten Bremslicht dann nachgefahren. Sie hat in der ruhigen Straße zwischen all den Volvos, Audis und Range Rovers geparkt und die Haustür mit einem Schlüssel geöffnet. Mehr war erst einmal nicht zu sehen, bis ich mich in den Garten geschlichen habe. Dort ergibt sich folgendes Bild.
Lulu schiebt einen Rollstuhl zur Tür herein und stellt ihn neben den Kamin. Das warme, flackernde Licht lässt auf ein Kaminfeuer schließen, obwohl es nicht kalt ist. Drinnen muss glühende Hitze herrschen. Die erste Überraschung besteht darin, dass der Mann im Rollstuhl recht jung ist. Vermutlich jünger als ich und zweifellos gut aussehend – er hat langes dunkles Haar und ein schmales, fein geschnittenes adlerartiges Gesicht. Mir fällt das Wort aristokratisch ein, obwohl es auch an der Umgebung liegen kann. Sie unterhalten sich. Ihre Körpersprache verrät, dass sie gut miteinander auskommen und sich lange zu kennen scheinen.
Ich bewege mich vorsichtig durch das feuchte Gebüsch, damit ich mehr erkennen kann. Lulu schaut einen Moment lang aufmerksam zum Fenster, woraufhin mein Herz einen Sprung macht, obwohl ich weiß, dass ich vollkommen im Rhododendron verborgen bin. Sie scheinen zu überlegen, ob sie die Vorhänge schließen sollen. Sie zögert kurz und lässt es. Dann geht sie aus dem Zimmer. Er schaut in den Kamin.
Warum hasse ich diesen Mann? Er hat mein Mitleid verdient. Obwohl sich sein Mund bewegt und er den Kopf hin und herdrehen kann, rührt sich sonst nichts an ihm; er ist vom Hals abwärts gelähmt. Hilflos.
Lulu kommt mit einem Tablett zurück, das sie auf einem kleinen Tisch abstellt. Sie greift zu einer Schnabeltasse und hält sie dem Mann im Rollstuhl hin. Hat sie ihrem Bruder Tene damals auch geholfen – ist sie so zu diesem Beruf gekommen?
Dann geht die Tür auf, und eine gepflegte, eindrucksvolle
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