Was mit Rose geschah
Hauptstraße säumen. Spielzeugzüge fahren langsam über die Brücke und hypnotisieren mich; Bremsen zischen und scheppern; Räder rattern über die Schwellen; die Zugfenster sehen aus wie ein Film, der seitwärts abläuft; Schnappschüsse von Menschen, die zu ihren Lieben heimgetragen werden und denen es egal ist, dass ich allein hier drinnen sitze, während sie vorbeirattern.
Vielleicht kehren einige von ihnen auch in dunkle Häuser zurück, in denen niemand wartet. Manche dieser Leute, die Kreuzworträtsel lösen oder blicklos in die Nacht schauen, sind vielleicht innerlich verzweifelt; gelangweilte Gesichter, hinter denen sich ein trostloses Chaos verbirgt. Was könnte gewöhnlicher sein als eine gescheiterte Ehe? Was könnte banaler sein?
Zehn Jahre, und auf mehr kann man nicht hoffen?
Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Ray.
20
JJ
Ich muss zum Direktor. Mr Stewart hat nicht gesagt, worum es geht, aber ich habe schon so eine Ahnung. Alle Lehrer reden nur noch von der Abschlussprüfung, und ich habe schon damit gerechnet, dass sie mich über kurz oder lang hinbestellen.
McDonagh, der Direktor, ist nicht so übel. Er schaut mich an und lächelt, als ich hereinkomme.
»Nun, James, setz dich.«
Es ist komisch, wenn mich jemand James nennt. Ich frage mich dann immer, wer zum Teufel gemeint ist.
»Mir ist zu Ohren gekommen, dass dein Schulbesuch in diesem Jahr alles andere als regelmäßig war.«
Oh.
»Hast du irgendwelche Probleme zu Hause, James?«
»Nein.«
»Es ist nur so, dass du früher immer so regelmäßig gekommen bist.«
Für einen Zigeuner – er sagt es nicht, denkt es aber.
»Also habe ich mich gefragt, ob sich deine Lebensumstände irgendwie verändert haben.«
Ich zucke mit den Schultern. Ich will nicht, dass Mama Schwierigkeiten bekommt. Wahrscheinlich hat sie ohnehin schon welche.
»Nein. Es ist nur … manchmal, wenn meine Mutter arbeitet, kann mich niemand fahren. Die Bushaltestelle ist so weit entfernt.«
Das kommt total falsch rüber. Als würde ich ihr die Schuld geben, dabei kann sie nichts dafür.
»Verstehe. Wo wohnst du denn jetzt?«
Vor dieser Frage habe ich immer Angst. Ich glaube, er denkt, dass wir auf dem öffentlichen Stellplatz in der Nähe des neuen Supermarktes wohnen. Soweit ich mich erinnere, gibt es da sogar eine eigene Haltestelle. Aber da sind wir schon seit einer Ewigkeit nicht mehr.
»Backs Lane«, murmele ich. Das ist gelogen, aber McDonagh wirkt weder misstrauisch noch sonderlich interessiert.
»Ich will mich nicht einmischen, James. Du hast eine gute Chance auf einen Abschluss, und diese Chance will ich dir nicht nehmen. Ich möchte dir nur helfen.«
Wie will er mir helfen? Indem er mich jeden Morgen zur Schule fährt? Wohl kaum.
»Ich sorge dafür, dass mich jemand mitnimmt«, sage ich, was sich ein bisschen dämlich anhört.
»Wirklich? Wir können nämlich etwas unternehmen, falls es ein … Problem gibt.«
»Danke, schon gut.«
»Und was ist mit den Hausaufgaben? Hast du eine stille Ecke, in der du lernen kannst?«
Ich nicke heftig.
»Sonst kannst du nämlich gern nach dem Unterricht hierbleiben und in der Bibliothek arbeiten. Da ist es ruhig.«
»Nein, schon gut … es …«
Da Mama und ich nur zu zweit sind, ist Ruhe nicht das Problem. Damit ist es jetzt viel besser als auf dem städtischen Stellplatz, wo man aus dem Fenster praktisch ins Schlafzimmer des Wohnwagens nebenan schaute. Außerdem hörte man alles, was passierte. Ich meine wirklich alles.
»Falls du etwas brauchst, kannst du dich jederzeit an mich oder einen Lehrer wenden. Wir setzen große Hoffnungen in dich, James.«
Er lächelt aufrichtig, aber auch ein bisschen süßlich. Ich hoffe, es ist bald vorbei.
»Danke, Mr McDonagh«, murmele ich.
»Meinst du, du kannst deinen Schulbesuch regelmäßiger gestalten?«
»Klar.«
»Wir versprechen uns wirklich viel von dir. Mrs Casanada ist von deinen Leistungen in Englisch sehr angetan. Wenn alles gut läuft, können wir sogar über einen höheren Abschluss sprechen.«
Er sagt das, als wäre es die Pointe eines richtig guten Witzes. Tada!
Ich nicke wie ein Idiot, weil ich nicht weiß, wie ich sonst reagieren soll.
»Na schön. Danke, dass du gekommen bist, James.«
Er bedankt sich immer, dabei hat er mich doch zu sich bestellt. (Wird er dadurch ein netterer Mensch? Keine Ahnung.) Ich sage auch danke. In unserer Schule legt man großen Wert auf gute Manieren. Vor allem deswegen war Mama so froh, dass sie mich genommen
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