Was Pflanzen wissen
war überzeugt, dass das Blatt irgendeinen Fleischgeschmack von der Beute zwischen ihren Blättern aufnahm, und testete alle möglichen Arten von Eiweißen und anderen Substanzen auf dem Blatt. Aber diese Experimente waren vergeblich: Mit keinem seiner Versuche konnte Darwin die Falle zum Zuschnappen bringen.
Sein Zeitgenosse John Burdon-Sanderson machte jene entscheidende Entdeckung, die den Auslösemechanismus ein für alle Mal erklärte. 35 Burdon-Sanderson war Professorfür praktische Physiologie am University College in London und ausgebildeter Arzt. Er untersuchte die elektrischen Impulse, die in allen Tieren zu finden sind, von den Fröschen bis zu den Säugetieren, doch aufgrund seines Briefwechsels mit Darwin war er bald besonders von der Venusfliegenfalle fasziniert. Burdon-Sanderson platzierte vorsichtig eine Elektrode im Fangblatt der Venusfliegenfalle und entdeckte, dass ein Anstoßen an zwei Fühlborsten ein Aktionspotenzial auslöste, das dem ähnelte, das er bei der Muskelkontraktion von Tieren beobachtet hatte. Er fand heraus, dass es, wenn der Vorgang erst einmal initiiert war, mehrere Sekunden dauerte, bis die elektrische Spannung wieder in den Ruhezustand zurückkehrte. Und er erkannte, dass die Berührung der Borsten in der Falle durch ein Insekt ein Aktionspotenzial auslöst, das in beiden Blatthälften wahrgenommen wird.
Burdon-Sandersons Entdeckung, dass Druck auf zwei Borsten ein elektrisches Signal auslöst, das zum Zuklappen der Falle führt, gehört zu den wichtigsten seines Berufslebens und war das erste anschauliche Beispiel dafür, dass elektrische Aktivität die Entwicklung von Pflanzen reguliert. Dass das elektrische Signal die direkte Ursache für das Schließen der Falle war, blieb für ihn jedoch eine Hypothese. Erst mehr als 100 Jahre später bewiesen Alexander Volkov und seine Kollegen an der Oakwood University in Alabama, dass die elektrische Stimulation selbst das Signal ist, das das Zuschnappen der Falle verursacht. 36 Sie wandten eine Art Elektroschocktherapie auf die offenen Fangblätter der Pflanze an und brachten damit die Falle zum Zuklappen, ohne dass die Fühlborsten direkt berührt wurden. Volkovs Arbeit und frühere Untersuchungen in anderen Laboren konnten auch klären, dass die Falle sich merkt, wann eine erste Borste berührt wurde, und dann abwartet, bis eine zweite Borste stimuliert wird, ehe sie sich schließt. 37 Erst in jüngster Zeit hat die Forschung Licht auf den Mechanismus geworfen, der der Venusfliegenfalle erlaubt, sich zu erinnern, wie viele ihrer Fühlborsten berührt wurden; im letzten Kapitel nehmen wir diesen Mechanismus genauer unter die Lupe. Doch ehe wir zu der Frage kommen, wie Pflanzen sich an etwas erinnern, müssen wir dem Zusammenhang zwischen dem elektrischen Signal und der Bewegung der Blätter ein wenig Zeit schenken.
Wasserkraft
Burdon-Sanderson fiel auf, dass der elektrische Impuls, den er bei der zuklappenden Venusfliegenfalle entdeckte, große Ähnlichkeit mit dem Verhalten eines Nervs und eines kontrahierenden Muskels hatte. Während ihm ein solcher Impuls trotz des Fehlens von Nerven plausibel erschien, blieb ihm der Bewegungsmechanismus angesichts des Fehlens von Muskeln zunächst rätselhaft. Soweit Burdon-Sanderson wusste, wirkte das Aktionspotenzial in der Pflanze auf kein ersichtlich muskelähnliches Ziel ein, um das Schließen der Falle auszulösen.
Untersuchungen der Mimosa pudica boten für das Verständnis von Blattbewegungen ein wunderbares Experimentierfeld, das dann auf andere Pflanzen ausgedehnt werden konnte. Die Mimosa pudica ist in Süd- und Mittelamerika heimisch, wird inzwischen aber wegen ihrer faszinierenden beweglichen Blätter weltweit als Zierpflanze kultiviert. IhreBlätter sind außerordentlich berührungsempfindlich, und wenn man mit dem Finger über eines davon streicht, falten sich alle Blätter rasch zusammen und hängen herab. Einige Minuten später öffnen sie sich wieder, schließen sich aber genauso schnell wieder, wenn man sie noch einmal berührt. Der Name pudica spiegelt diese Bewegung des Hängens und Einklappens wider, denn er ist das lateinische Wort für schüchtern oder schamhaft. Daher auch der deutsche Name »Schamhafte Sinnpflanze« und die in vielen Gegenden gebräuchliche Bezeichnung »Empfindliche Pflanze«. Auf den Westindischen Inseln bezeichnet man sie aufgrund ihres ungewöhnlichen Verhaltens als »Scheintod«, auf Englisch und Hebräisch heißt sie »Rühr-mich-nicht-an« und
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