Was sie nicht weiss
»Und falls der Schlag nicht zum Tod geführt hat, war es der hohe Blutverlust. Der Täter hat beim Abschneiden des Penis entweder aus Versehen oder absichtlich in die Leiste gestochen und dabei eine Schlagader durchtrennt.«
»Gibt es Zeugen?«, fragt Lois.
»Bisher nicht. Im Dunkeln sind hier kaum Leute unterwegs. Möglich, dass jemand vom Radweg oder von der Straße aus etwas gesehen hat, gemeldet worden ist bisher aber nichts. Wir sollten einen Aufruf in die Zeitung setzen.«
Ramon geht in die Hocke und deutet auf die Hundeleine neben dem Toten. »Offenbar hat der Mann seinen Hund ausgeführt, der war allerdings nirgendwo zu sehen. Ich denke, der Täter hat ihm hier aufgelauert.«
»Wenn die Brieftasche noch da ist, war es wohl kaum ein Raubüberfall«, folgert Lois.
»Glaube ich auch nicht, zumal etliche Geldscheine drin sind«, sagt Ramon. »Das Ganze ist so grotesk, das sieht eher nach einer Abrechnung aus.«
»Was auch immer der Tote getan haben mag, eine Kleinigkeit kann es nicht gewesen sein, wenn man ihn anschaut«, meint Fred trocken.
Sämtliche Gegenstände, die bei dem Opfer gefunden wurden, sind inzwischen sichergestellt und in Plastikbeuteln verpackt: die Hundeleine, die Brieftasche samt Inhalt, ein BlackBerry, ein Taschenkalender und ein Flyer, der zusammengefaltet in der hinteren Hosentasche steckte.
Lois nimmt den Beutel mit dem Flyer zur Hand. Es handelt sich um die Ankündigung einer Gemäldeausstellung.
»Er hat sich also für Kunst interessiert«, murmelt sie vor sich hin. Sie prägt sich den Namen der Malerin ein – Maaike Scholten – und legt den Beutel dann wieder zu den anderen in die Plastikwanne der Spurensicherer.
Ein uniformierter Polizist macht sich mit einem Hüsteln bemerkbar.
Ramon dreht sich um.
»Da steht eine Frau an der Absperrung, die meint, das Opfer könne ihr Freund sein«, sagt der Polizist. »Sie hat zu Hause auf ihn gewartet, und als der Hund allein zurückkam, hat sie sich auf die Suche gemacht.«
Tatsächlich, hinter dem Plastikband steht jemand, in der Dunkelheit nur schemenhaft erkennbar.
»Sprich du bitte mit ihr«, sagt Ramon zu Lois.
Mühsam stöckelt sie über die feuchte Wiese auf die Frau zu.
Sie ist jung, vermutlich unter dreißig, kaut nervös an ihren Nägeln herum und reckt dabei immer wieder den Hals, um besser sehen zu können.
»Guten Abend.« Lois hält ihr die Hand hin. »Ich heiße Lois Elzinga und bin bei der Kripo. Kann ich Ihnen behilflich sein?«
Die Frau gibt ihr die Hand. Sie trägt das blonde Haar zu einem komplizierten Zopf geflochten, der Pony klebt feucht an ihrer Stirn.
»Ich bin Cynthia van Dijk!«, stößt sie hervor. »Wer liegt da drüben? Ist es David?«
»Wer ist David?«
»Mein Freund. Er ist mit dem Hund rausgegangen. Meis tens ist er nach einer halben Stunde wieder da, aber heute nicht. Erst dachte ich, er hätte vielleicht einen Bekannten getroffen, deshalb hab ich mir keine Sorgen gemacht. Aber als Goldie plötzlich allein vor der Tür stand, bin ich unruhig geworden und hab ihn gesucht. Er ist es nicht, oder? Bitte, es darf nicht David sein!«
Lois weicht ihrem flehenden Blick aus und fragt: »Wie heißt Ihr Freund mit Nachnamen?«
»Hoogland. David Hoogland heißt er.«
»Wir haben tatsächlich jemanden gefunden, der eine Brieftasche mit Papieren auf diesen Namen bei sich hat.«
»Aber … was ist denn passiert? Ist er überfallen worden? Er lebt doch, oder?«, fragt Cynthia angstvoll.
»Leider nein. Es tut mir unendlich leid.«
Mit offenem Mund starrt die Frau Lois an. Ihre Augen werden groß. Aber sie sagt kein Wort und bricht auch nicht in Tränen aus. Ein schwaches Stöhnen ist alles, was sie hervorbringt.
Lois legt ihr die Hand auf die Schulter. »Kann ich etwas für Sie tun?«
Cynthia schüttelt den Kopf und versucht, an Lois vorbei einen Blick auf den Toten zu werfen. »Ich will ihn sehen!«
»Das wird jetzt nicht gehen, weil die Spurensicherer noch vor Ort sind.« Dass die drei Männer vorhin gegangen sind, hat Cynthia hoffentlich nicht mitbekommen.
»Das ist mir egal! Ich muss wissen, ob es David ist oder nicht! Vielleicht ist seine Brieftasche gestohlen worden, und da liegt ein ganz anderer!«, ruft sie aufgeregt.
»Das Foto im Pass stimmt mit dem Aussehen des Mannes überein«, sagt Lois leise. »Ich fürchte, wir müssen davon ausgehen, dass es sich um Ihren Freund handelt. Fühlen Sie sich in der Lage, ein paar Fragen zu beantworten?«
6
Sie sitzen in Cynthia van Dijks Wohnzimmer.
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