Was Sie schon immer über 6 wissen wollten
Komplexität des Universums, so Laughlin, lasse sich nicht in einer Zeile mathematischer Symbole niederschreiben. Also sollten Physiker und Mathematiker sich weniger zu derart vollmundigen Versprechungen hinreißen lassen und stattdessen ihre Zeit mit Sinnvollerem verbringen. Womit wir beim eigentlichen Thema wären.
II.
Zählen lernen
Wovon reden wir überhaupt, wenn wir von Zahlen reden? Gibt es Zahlen in der Natur, und der Mensch hat sie nur entdeckt? Oder wurden sie irgendwann von ihm erfunden? Existieren Zahlen und ihre mathematischen Relationen also unabhängig vom Menschen oder wurden sie erst durch ihn und die von ihm entwickelten Kulturtechniken und Symbolsysteme des Zählens und Rechnens erschaffen? Diese so einfache wie tiefgründige Frage ist ein altes und bis heute ungelöstes Rätsel, an dem sich Philosophen und Mathematiker seit der Antike die Zähne ausbeißen. So behauptete der britische Philosoph Bertrand Russell in seinen 1903 erschienenen Principles of Mathematics : „Die Arithmetik muss genau in demselben Sinne entdeckt werden, wie Kolumbus West-Indien entdeckte, und wir schaffen die Zahlen so wenig, wie er die Indianer erschuf.“ Ein Paradebeispiel für die gegenteilige Auffassung lieferte der Mathematiker Richard Dedekind, der 1888 in seinem Werk Was sind und was sollen die Zahlen? schrieb: „Die Zahlen sind freie Schöpfungen des menschlichen Geistes, sie dienen als Mittel, um die Verschiedenheit der Dinge leichter und schärfer aufzufassen.“ Eine Art Kompromiss anzubieten versuchte der Mathematiker Leopold Kronecker, indem er 1886 in einem Vortrag sagte: „Die ganzen Zahlen hat der liebe Gott gemacht, alles andere ist Menschenwerk.“
Noch heute stehen sich diese philosophischen Schulen der Zahlentheorie unversöhnlich gegenüber. Natürlich tauchen Zahlen nicht als Ziffern oder Nummern in der Natur auf, die Bäume im Wald sind nicht durchnummeriert und Kometen haben keinen eingebauten Tachometer, der ihre Geschwindigkeit anzeigt. Was es in der Natur gibt, sind Quantitäten, die Zahligkeit von Objekten, von Atomen, Sandkörnern, Regentropfen, Libellen und Menschen. Und dann gibt es in der Natur unbestreitbar unterschiedliche Bewegungszustände, Größenverhältnisse und Massen, die sich der Mensch erst mühsamin Referenzgrößen wie Meter, Sekunde und Kilo übersetzen musste – und auch deren genaue Definition wirft wieder ihre eigenen Probleme auf (siehe Kapitel I). Zwar ist das Universum mit seinen physikalischen Eigenschaften geprägt durch Muster und Verhältnisse von Gegenständen oder physikalischen Kräften, die sich in Zahlen darstellen lassen, doch erst der Mensch hat im Laufe seiner kulturellen Evolution den Umgang mit Zahlen und ihren komplexen Beziehungen zueinander, den wir Mathematik nennen, entwickelt.
Diese Mathematik hat mittlerweile einen ganzen Zoo von Zahlen hervorgebracht, angefangen von den natürlichen über die rationalen und reellen Zahlen bis hin zu den irrationalen, komplexen und imaginären Zahlen. Wir wollen uns hier nicht länger mit diesen metaphysischen und mathematischen Spitzfindigkeiten herumschlagen, denn den meisten Menschen bereitet bereits der Umgang mit den natürlichen, das heißt den ganzen positiven Zahlen 1, 2, 3, 4 und so weiter genügend Probleme. Die Existenz negativer Zahlen kennen wir vom Girokonto und rationale Zahlen können wir uns als Bruch mit Zähler und Nenner rational gerade noch so vorstellen. Aber damit hört das mathematische Verständnis bei den meisten auch schon auf.
Weil Erwachsene sich bereits derart schwertun, ging man lange Zeit davon aus, dass Neugeborene überhaupt keinen Begriff von unterschiedlichen Größen haben. Kleinkinder lernen in einem langwierigen Prozess von 1 bis 10 zu zählen, durch Aufsagen der Zählreihe und gleichzeitiges Abzählen mit den Fingern, durch Merkverse und Abzählreime. Später kommen größere Zahlen und elementare Rechenoperationen hinzu. So entwickeln Kinder ganz langsam eine Idee davon, wie Zahlen funktionieren, und lernen, die Welt mit ihrer Hilfe zu begreifen. Dass wir uns das Reich der Zahlen auch in seinen ganz basalen Einheiten und Funktionen erst mühsam aneignen müssen, war über Jahrzehnte die vorherrschende Überzeugung in der Entwicklungspsychologie. Besonders einflussreich war hier die konstruktivistische Theorie des Schweizer Psychologen Jean Piaget und sein Modell der kognitiven Entwicklung des Menschen. Für Piaget ist das Gehirn des Neugeborenen ein
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