Was weiß der Richter von der Liebe
SINKFLUG
Renate Meins, Name geändert, kann die Aufregung gar nicht verstehen. Jeder ist doch mal fahrlässig. Jeder handelt doch auch mal aus einem guten Antrieb heraus, auch wenn er dabei danebengreift. Ohne zu große Sorgen hat Frau Meins sich heute hier eingefunden, bei Juristen höherer Laufbahn, hier ist sie, glaubt Frau Meins, ja fast unter ihresgleichen. Frau Meins setzt sich, sie will die doofe, bedauerliche Unregelmäßigkeit zügig aus der Welt schaffen. Frau Meins blickt sich im Saal um, aber sie sieht ja nichts. Sie sieht nicht, was heute hier ansteht: ihr Untergang nämlich.
Man hat ja schon ein paar Richter gesehen im Kriminalgericht, und die Richter haben sich einiges schon anhören müssen: von Morden und Misshandlungen; Betrügereien, Vergewaltigung und Wahn. Nie aber war einer emotional so drinnen wie dieser, nie hat man solche Seelenempörung gespürt – schließlich geht es heute um einen kapitalen Vorgang: Die Leiterin einer Straßenverkehrsbehörde hat falsche Gebührenbescheide zugestellt! Da nutzt alle Routine und nutzt alles dicke Fell nichts – das packt so einen Richter denn doch.
Da wird so ein Richter, so bärig er auch erscheinen mag mit seinem weißen Bart und seinem gut gepolsterten Erscheinungsbild, da wird so einer denn doch mal in echte Zorneshöhen sich aufschwingen, wird der Angeklagten ins letzte Wort fallen – »Was soll denn das jetzt heißen, Sie bitten um Milde, Ihr Anwalthat doch eben auf Freispruch plädiert!« –, wird sie nach allen Regeln der Kunst verknacken zu zwei Jahren auf Bewährung, wird ihr gratis noch die Worte »Selbstüberschätzung« und »Selbstherrlichkeit« um die Ohren bügeln. Frau Meins aber, über die noch niemals wer gerichtet hat, Frau Meins, die ihre Dienststelle im eisernen Griff gehabt und die sich ihre Aufgabe zur Berufung gemacht hat – ein echter »Gebührenhai« sei sie, lobten die Kollegen auf den Fluren; auch nach Dienstschluss fahre sie noch persönlich vor, um die Absperrungen der Schankvorgärten in Augenschein zu nehmen –, Frau Meins, 57 Jahre alt, ledig, keine Kinder, tüchtig bis übertüchtig, hört ihr Stündlein nicht schlagen. Im signalblauen Pulli mit Kette drauf, mit grauen Pudellocken, mit blauen Ohrringen und blauer Thermoskanne und mit original selbst mitgebrachter Bürotasse (Motiv: Pinguine im Sinkflug) bewaffnet, sitzt sie da vorne und hat für jede zweite Nachfrage erst mal ein Auflachen übrig. Über ihren zweiten Vornamen lacht sie, über ihre Bezeichnung als »Polizeiamtmann« lacht sie, und als der immer ärgere Richter sie immer weiter hinaus auf die Planke schubst, lacht sie weiter. Was die Inhalte ihrer Ausbildung als Diplom-Verwaltungswirt gewesen seien? Tihi, das sei ja schon so lange her. Ob sie die Prüfung bestanden habe? Ja, sonst wäre sie ja jetzt nicht bei der Polizei! Und selbst dann noch, als der Richter sie angefahren hat: Sie möge aufpassen, dass sie sich nicht der Lächerlichkeit preisgebe, selbst noch als er schnaubend die Verhandlung unterbrochen hat, selbst da noch schlendert die Meins gelassen und würdig zum Journalistenpulk hin und kopfschüttelt: Der sei ja ganz schön grantig!
Als das Verhängnis in ihr Leben trat, hat Frau Meins es auch nicht gemerkt. Mit heller Stimme und lernwilligem Blick kam es herein in die Dienststelle und hieß Frau Gramkow, auszubildende Praktikantin im mittleren Dienst. Frau Gramkow, 34, Name geändert, ist das optische Zentrum jeder Behörde: Recht hübsch im Gesicht und erst ganz bisschen verhärmt, die Üppigkeit in ein enges T-Shirt gezwängt, auf dem ein angebissener Apfel zu sehen ist, gibt sie sich auskunftsfreudig und brav, stimmt ihre Mädchenstimme den Ruppelrichter milde und verdattert. Frau Gramkow hat es damals als Erste bemerkt, oder sie hat als Erste gewagt zu bemerken: dass mit den Gebührenbescheiden etwas nicht stimmte. Weil Frau Meins nämlich seit Jahren überhöhte Summen abzwackte von jedem, der irgendwo in Schöneberg, Tempelhof, Steglitz oder Zehlendorf eine Restauration aufs Straßengebiet erweiterte. Frau Gramkow sollte die Bescheide für Frau Meins vorbereiten, und so rechnete sie los: 100 Euro Sondernutzungsgebühr bis 10 Quadratmeter Schankvorgarten. 200 Euro Sondernutzungsgebühr bis 35 Quadratmeter Schankvorgarten. Jeder weitere Quadratmeter: 20 Euro. Höchstgebühr: 767 Euro. Dass sie auf den Passus mit der Höchstgebühr gestoßen ist, sagt Frau Gramkow, da war sie ganz stolz. Da hat sie sich schon gefreut, dass Frau Meins
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