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Was weiß der Richter von der Liebe

Was weiß der Richter von der Liebe

Titel: Was weiß der Richter von der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Ungerer
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Meckelfeld antwortete schließlich: Ja, er habe kapiert. Er wolle wieder rein. Da habe Herr Kesten gelacht, und an seinem Gesicht habe man gesehen, dass ihmdas gefallen habe. Herr Meckelfeld erzählt mit leiser, stockender Stimme. Und jetzt beendet er den Prozess. Er sagt: »Ich rutschte.« Beziehungsweise: »Ich merkte, dass er dabei war, mich loszulassen.« Schließlich: »Seine Hand hat mich losgelassen.« Dem Amtsrichter wird ganz anders. Inständig dringt er in Herrn Meckelfeld: Ob er sich da ganz sicher sei? Bei der polizeilichen Vernehmung war doch vom Loslassen noch keine Rede gewesen! Dem Richter schwant: Soeben ist aus der Körperverletzung, die hier heute zu regulieren anstand, eine versuchte Tötung geworden – eine ganze schöne Tagesplanung bricht zusammen. Der Richter bohrt: Hat er Sie losgelassen? Sind Sie da sicher? Herr Meckelfeld betont: Er habe sich in Todesangst befunden. Er sagt: »Wenn ich das so sagen darf, einen Moment lang hatte ich das Gefühl, ich bin im Fall.« Der Richter nimmt einen letzten Anlauf zur Rettung des Tages, er fragt: »Können Sie ausschließen, dass er Sie doch festgehalten hat?« Und derart in die Ecke gedrängt, weiß der dünne Herr Meckelfeld nun, dass nur noch Entschluss ihn retten kann, und er spricht: »Er hatte losgelassen. Einer seiner Kumpels griff dann nach und hielt mich fest.« Die Verteidigung schäumt: »Er hatte das Gefühl! Das ist jetzt zwei Jahre her!« Der Richter sagt: »Gut. Wunderbar.« Schließt alle Akten. Und überweist den Fall ans Landgericht. »Die werden sich wahnsinnig darüber freuen.« Ab geht er, ab geht Muskelkobold Kesten, ab gehen die Journalisten, ab geht auch der stille, dünne, aufgebrezelte Herr Meckelfeld.
    Und taucht ein paar Monate später im Landgericht wieder auf: Grau in grau gewandet jetzt, die Haare zur Gänze auf Raspel gekürzt;kein bisschen weniger blass, aber kein bisschen weniger ängstlich. Als Nebenkläger hat er seinen Anwalt dabei, und eine seelische Unterstützung vom schwulen Überfalltelefon, die hat er auch dabei, die sitzt im Publikum. Herr Meckelfeld hat eine schwere Prüfung vor sich: Gerechtigkeit ist, was er will, und doch muss er alles wieder von vorne durchleben, muss seinem Peiniger gegenübersitzen, der ihn bei anderen Gelegenheiten hochgehoben, geschüttelt und durch die Wohnung geschmissen hat, der ihn – Herr Meckelfeld ist sich da sehr sicher – mit dem Gesicht ins Sofa gedrückt und ihm dann eine Waffe an die Schläfe gedrückt hat. In der offenen Art, die Kobolden zu eigen ist, lässt Herr Kesten sich dazu ein: Also das mit der Waffe, das stimme nicht. Alles andere räume er ein, und das mit dem Fenster tue ihm sehr leid, das war »ein übler Scherz, den ick ooch bereue«. Es stimme: Ständig habe man sich in der Wolle gehabt; ständig habe Herr Meckelfeld sich an seinen Sachen vergriffen, an seinem PC etwa, obwohl er dort ein Verbot hatte. Ja, das habe er aus ihm rauserziehen wollen. Aber doch nicht mit Waffengewalt! »Die Luftdruckpistole war eigentlich nur in meiner Sammlung. Ick hab noch nich’ mal damit in der Wohnung rumjeschossen.« Unprätentiös trägt er das vor, in laxer Entrümplerkluft und mit Händen, die schwarz sind vom rostigen Metall, mit dem er jeden Tag zu schaffen hat, und einmal beugt er sich vorwärts über seinen Tisch wie einer, der um Gehör bittet, und maunzt: Er entschuldige sich.
    Herr Meckelfeld muss heute trotzdem durch die Hölle, er wird sich winden, wird wütend werden, wird kämpfen: um seine Anerkennungals Opfer. Hier ist er falsch. Seine Genugtuung hat für das Gericht kein Gewicht. Man ist zu Zwecken der Wahrheitsfindung zusammengekommen, und da die Wahrheitsfindung den Weg des Zweifels geht, wird Herr Meckelfeld hier von einer Verzweiflung nach der anderen gepackt werden. So richtig, das ist zu spüren, so richtig ganz bis zu Ende will ihm keiner glauben: Dass er fiel. Kesten ihn ließ. Und dass dessen Kumpel, der gemütliche Herr Dierks, im selben Moment zugegriffen habe durch das kleine Fenster, ihn am Bein gepackt und gerettet habe. Herr Dierks schiebt sich rein, er setzt sich, Herr Dierks sagt: Nee, auf keinen Fall habe er Herrn Meckelfeld das Leben gerettet. Und überhaupt könne er sich den Vorgang gar nicht so richtig vorstellen: Das sei ja im vierten Stock gewesen. Wenn da einer runterfalle! Also er habe von der ganzen Aktion nichts mitbekommen, und eingeschritten wäre er auch nicht – am Ende kriege Herr Kesten noch einen Schreck und lasse den

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