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Was wir erben (German Edition)

Was wir erben (German Edition)

Titel: Was wir erben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: BjÖrn Bicker
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große Preis
. Es gab damals bei uns nicht viele Shows, es gab noch nicht einmal Privatfernsehen, es gab Formate, die hießen
Dalli Dalli
oder
Einer wird gewinnen
, an diesem Abend war es
Der große Preis
, es lief gerade die Anmoderation, Wim Thoelke, der Showmaster, begrüßte seine Kandidaten, da sagte der Vater in zackigem Befehlston: So ein Kopf. Hält viel aus.
    Meinte er seinen eigenen Kopf wegen des Fernsehprogramms? Sollte das ein Witz sein? Meinte er die Mutter, die mit einer Gehirnerschütterung im Krankenhaus lag? Meinte er Wim Thoelke und seinen Riesenschädel? Wollte er mich beruhigen?
    Wim Thoelke rieb seine Hände, begrüßte die Zuschauerund
die lieben Kinder vor den Geräten
, verkündete den Stand der Geldsammlung für die Behinderten des Landes, um dann dem ersten Kandidaten seine Eingangsfragen zu stellen. Ich kauerte in einer Ecke des Sofas, der Vater saß aufrecht in seinem abgewetzten Ohrensessel. So ein Kopf. Hält viel aus. Sagte er noch mal. Er stand auf und setzte sich zu mir auf das Sofa. Das hatte er noch nie getan, der Unnahbare. Und seit dem Selbstmord meines Bruders (Deines Halbbruders), der erst ein paar Jahre her war, war er noch weiter weg. Er vermied jede Art von körperlicher Nähe. Ein einziges Mal hatte er mich zuvor in den Arm genommen, das war, als wir in der Leichenschauhalle standen, wo der Bruder aufgebahrt lag und wir ihn ein letztes Mal ansehen durften. Der Kiefer war, über Wangen und Schädeldecke, mit einer hautfarbenen Binde festgebunden. Das Gesicht war grau. So ein Grau hatte ich vorher noch nie gesehen. Es war das Grau, das alles verschlingt. Ich träumte wochenlang von diesem Kopf, wie sich die Binden lösten, wie Dinge aus seinem Mund fielen, Löffel, Kerzen, Teppiche, und dann flogen die Gegenstände durch das Zimmer, in dem ich schlief, und das Zimmer wurde immer voller und ich bekam keine Luft mehr, weil die Dinge in meinen Mund reinwollten, und ich hielt den Mund geschlossen und erstickte fast, und als der Kopf des Bruders anfing zu würgen und plötzlich Tiere aus seinem zahnlosen Maul krochen, Hunde, Affen, Zebras, Fische, da wachte ich auf. Jedes Mal an derselben Stelle und meistens stand die Mutter an meinem Bett, weilich im Schlaf geschrien hatte, so laut, dass sie es ein Stockwerk tiefer, beim Fernsehen mit meinem Vater, gehört hatte. Und jetzt saß der Vater neben mir auf dem braunen Sofa, die Hände in den Schoß gelegt, und ich wagte es nicht, ihn anzuschauen. Ich starrte regungslos auf den Fernseher. Die Show plätscherte dahin. Ich spürte seine Nähe und ich verkrampfte mich, ich verhakte die Arme zwischen meinen Beinen, ich verknotete mich, meine langen, dünnen Glieder verschlangen sich zu einem Knäuel und der Vater legte aus einiger Entfernung seine Hand auf meinen Kopf, die Zeit schien stehen zu bleiben und ich spürte, wie ich langsam vom Sofa runterrutschte, weil ich keinen Arm mehr frei hatte, um mich festzuhalten, und der Arm des Vaters bewegte sich mit mir, Zentimeter für Zentimeter, wie angeklebt. Erst der Arm, dann der ganze Körper, einer leblosen Puppe gleich. Das muss ausgesehen haben wie eine moderne Tanzperformance, zwei Körper, die wie von Geisterhand miteinander verbunden schienen, aber jeglichen Kontakt zueinander verneinten, begaben sich in eine gemeinsame Bewegung, die damit endete, dass ich vom Sofa fiel und der Vater, der offenbar nicht bereit war, die Berührung aufzulösen, fiel mit, ganz langsam, und dann lagen wir beide zwischen Wohnzimmertisch und Sofa auf dem Rücken, die Hand des Vaters, völlig verdreht, immer noch auf meinem Kopf, meine Arme zu einem X verkrampft. Der Fernseher stieß weiter ahnungslos Stimmen und Gelächter und Musik aus. Wim Thoelke stellte sein Team vor. Ich hörte die Namen und einen habeich noch im Ohr, Dr. Eberhard Gläser, das war der Notar, der aufpasste, dass alles mit rechten Dingen zuging. Ich hörte diesen Namen und mit dem einen Auge sah ich unseren halben Kronleuchter und seine Plastikfassungen, die aussahen wie Kerzen, an denen künstliches Wachs herabtropfte, und mit meinem anderen Auge sah ich die Unterseite des Wohnzimmertisches, auf der ein alter Kuckuck klebte. Fast alle Gegenstände in unserer Wohnung waren mit so einem Kleber versehen. Fernseher, Staubsauger, Wohnzimmerschrank. Für mich gehörten diese Aufkleber zu unserer Einrichtung und ich war erstaunt, dass die Dinger in den Wohnungen meiner Freundinnen nicht zu finden waren. Das waren Relikte aus den harten

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