Was wir erben (German Edition)
Saufjahren vor der Therapie, der Vater hatte ohne Ende Kredite aufgenommen, um seinen täglichen Suff zu finanzieren, und irgendwann konnte er die Raten nicht mehr bezahlen und dann kam der Gerichtsvollzieher, meistens vormittags, wenn die Mutter allein zu Hause war, und die dachte sich Erklärungen aus, hilflose Entschuldigungen, dass alles gezahlt werde, dass es sich wohl um ein unbeabsichtigtes Versäumnis handeln müsse. Und solange die Schuld nicht getilgt war, klebte dieser Kuckuck auf den Gegenständen. Aber weder die Mutter noch der Vater entfernten die Aufkleber wieder, nachdem die Schulden getilgt waren. Wir lagen da und der Vater drehte den Kopf zu mir und lächelte, tatsächlich, er lächelte. Ich wollte mich nicht bewegen. Ich wollte, dass wir ewig so liegen blieben. So ein Kopf. Hält viel aus. Sagte er zum dritten Mal. Und ich sahseine Narbe, die hell und blutleer aus seinem roten Gesicht hervorstach. Seine Haare hingen nach hinten herunter und die Glatze, die er sonst mit dem gescheitelten Haar bedeckt hielt, leuchtete wie ein reifer Apfel. Seine verschmierte Brille lag auf dem Teppich neben seinem Kopf. Nach einer Weile lösten sich meine Arme. Der Vater atmete ruhig neben mir. Ich drehte mich zu ihm. Er starrte in die Luft. Die Narbe pochte. Wie von selbst hob sich mein Arm und ich legte einen Finger auf seine Stirn, genau an die Stelle, wo die Narbe endete und von der unbeschädigten Haut umrandet wurde. Keine Reaktion. Ich fuhr mit dem Finger seine Stirn entlang, der Narbe folgend. Als ich an ihrem Ende angekommen war, fing ich vorne wieder an. Ich streichelte mit einem Finger meiner linken Hand seine Stirn. Er schloss die Augen. Der Vater ließ es geschehen. Was ist das, fragte ich ihn.
Ein Mal
, sagte er feierlich und dann fing er an zu reden. Er lag da, auf dem Rücken, mit geschlossenen Augen und es stieg Wort um Wort aus seinem Mund. Er sprach von sich. Er sprach von sich in der ersten Person. Mit jedem Satz stieg sein Atem in die Luft. Ein warmes Gemisch aus Zigaretten und Zwiebeln und frischem Tartar. Der Vater hörte sich leicht an, fröhlich fast, die Augen fest geschlossen.
Wir hatten das größte Haus der ganzen Stadt, sagte der Vater, vier Stockwerke und einen Anbau und einen riesigen Garten. In diesem Garten standen Eichen und eine Kastanie und am Rande des Gartens floss ein Bach und auf der anderen Seite des Bachs, da war ein Friedhof, einalter, wunderschöner, schattiger Friedhof, auf diesem Friedhof waren Grabmale, Denkmäler, Gruften, aber auch ganz unscheinbare Gräber. Den Friedhof durften wir Kinder nicht alleine betreten. Eines Nachts, als die Eltern schliefen, bin ich über den Baum vor meinem Fenster nach unten geklettert und über ein Brett, das ich im Gebüsch versteckt hielt, habe ich den Bach überquert und dann bin ich von Grab zu Grab mit einer Kerze und habe die Namen auf den Steinen gelesen und ich habe mir die Namen gemerkt, jeden einzelnen, und ich habe mich gefürchtet vor den Toten, aber nichts geschah, nichts, doch am nächsten Tag kam die Polizei zu uns nach Hause und da standen die Uniformierten in der Eingangshalle unseres Hauses, in dieser riesigen, holzvertäfelten Aula, und schauten streng drein und unser Dienstmädchen Ursula kam zu mir und zog mich am Arm die Treppen hinunter und meine Mutter kam aus ihrem Büro und nahm mich im Wohnzimmer in Empfang und zog an meinen Kleidern und verpasste mir eine Ohrfeige, ich wusste nicht, worum es ging, Ursula schüttelte den Kopf immer und immer wieder und die Mutter stand streng da und hielt meine Hand und Ursula holte die Polizisten, die traten ins Wohnzimmer und meine Mutter forderte die Ordnungshüter auf, meine Herren, worum geht es, und die Männer sprachen laut, schrien fast, sie zeigten auf mich und riefen Wörter wie Lebensgefahr und Gefährdung und Leichtsinn und Anordnung und Verdunklung und Kerzenschein und Bombenangriffe und nationale Pflicht und die Mutterhörte sich alles an und sagte den Männern, dass das nie wieder vorkomme, dass ich das Haus in der Nacht nicht mehr verlassen werde, dass man sich darauf verlassen könne, und als die Männer wieder weg waren, da befahl meine Mutter: Erklären Sie dem Jungen, was er getan hat, und sorgen Sie dafür, dass das nie wieder vorkommt, und die Mutter verschwand wieder durch die große Schiebetür Richtung Büro, wo sie die Geschäfte der Firma leitete, und Ursula erklärte mir alles, sie ging mit mir nach oben, sie stellte sich an eines der großen
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