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Was wir erben (German Edition)

Was wir erben (German Edition)

Titel: Was wir erben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: BjÖrn Bicker
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Fenster und zeigte mit dem Finger nach oben, da, mein Junge, da fliegen sie nachts, die Flugzeuge mit den Bomben, und sie fliegen in größere Städte, sie fliegen zu den Fabriken nach Leuna und Buna und dort werfen sie ihre Fracht hinab und zerstören alles, und wenn es dunkel ist, dann dürfen wir kein Licht entzünden, nicht ein einziges, nicht die kleinste Kerze, sonst sehen sie, dass wir hier wohnen, und dann werfen sie ihre Bomben auf unsere Stadt, Junge, du hörst doch das Brummen nachts und siehst die Lichter am Himmel, die hellen Christbäume weit da hinten, das sind die Feinde, sie zünden die Lichter an, damit sie sehen, wohin sie die Bomben werfen können, und ich hörte Ursula zu und ich glaubte ihr jedes Wort und ich verstand, warum ich nicht mit der Kerze nachts zu den Toten gehen durfte, ich musste alles dafür tun, dass sie keine Bomben auf unsere Stadt und unser Haus und auch nicht auf den Friedhof werfen, und ich fragte Ursula, ob die toten Seelen, die hinter der Kastanie, auf der anderen Seite des Bacheswohnten, ich fragte sie, ob diese Seelen auch Angst hatten oder ob die Toten solche Gefühle nicht mehr kannten, und Ursula wurde ganz still und dann sprach sie weiter und sagte leise, mein Junge, die Seelen sterben nicht, nur die Körper, die sterben, die Seelen sind frei und die haben keine Angst mehr, die leben beim lieben Gott, nur die Seelen von den ungehorsamen Kindern, die liegen noch in den Gräbern und die zittern und fürchten sich jede Nacht, dass sie getroffen werden von den Bomben, die frieren, wenn es Winter ist, die schwitzen, wenn es Sommer ist, die sind nicht erlöst, die müssen Höllenqualen leiden, aber du, sagte Ursula, du bist ein braver Junge und bleibst nachts in deinem Bett liegen und passt auf, dass den Toten nichts passiert und auch den Lebenden nichts. Es ist verboten, mit einer Kerze in der Nacht auf den Friedhof zu gehen, das weißt du jetzt.
    Der Vater lachte. Ursula habe ich alles geglaubt, sagte er. Sie war schön, obwohl sie eine Hasenscharte hatte. Aber das fiel kaum auf, weil ihre Lippen so breit waren, dass die Narbe im fleischigen Rot ihres Mundes verschwand. Sie war groß und schlank. Und sie war anwesend. Tag und Nacht, sagte der Vater. Sie trug ein schwarzes Kleid und über dem Kleid eine weiße Schürze, wie eine Kellnerin, aber eigentlich war sie ein Engel. Der Vater stockte. Ich wusste nichts. Ob Ursula Familie hatte, wo sie herkam, wie sie mit Nachnamen hieß, nichts. Sie war einfach Ursula und als Ursula gehörte sie zur Familie und war für uns Kinder zuständig. Ursula duftete immernach frischer Seife. Sie hatte hell leuchtende Haut und rötliches Haar, und obwohl sie dünnhäutig und durchsichtig wirkte, war sie fest und entschlossen und wusste immer, was zu tun war. Ihre tiefe Stimme passte nicht zu ihrem Aussehen, aber für uns, sagte der Vater, war das normal. Einmal habe ich gehört, sagte er, wie mein Vater sie
Engelchen
genannt hat.
    Engelchen
. Holger und ich hatten Besuch von Freunden. Die hatten ihre kleine Tochter dabei, und als wir spazieren waren, haben Holger und ich sie in unsere Mitte genommen und mit ihr
Engelchen flieg
gespielt. Nach einer viertel Stunde waren wir beide völlig außer Atem, aber die Kleine wollte immer weitermachen und Holger hat sie angefeuert und plötzlich musste ich weinen. Die Freunde wollten wissen, was los ist. Holger war stumm, weil er dachte, es sei wegen des Kindes, wegen des ungeborenen Kindes, weil ich einfach nicht schwanger werde, aber das war es nicht. Es war das Wort:
Engelchen
.
    Und dann, sprach der Vater weiter, ein paar Jahre später, ist es wirklich passiert, die Bomber ließen ihre Fracht über unserer Stadt fallen, und als wir aus dem Keller kamen, da sah ich, was geschehen war, die Gräber waren zerstört, da waren drei klaffende Krater, ich starrte in die Tiefe und fing an zu zittern, weil ich mich fragte, ob da wohl Tote begraben waren, die gar nicht tot waren, Tote, die ungehorsam waren als Kinder, Tote, die zittern mussten, dasssie bestraft werden, Tote, die froren und schwitzten, Tote, deren Seelen noch da waren und die jetzt getroffen und zerfetzt umherschwebten wie Geister, und obwohl ich längst viel größer war und wusste, dass es keine Seelen gab und womöglich gar keinen Gott, stand ich trotzdem da und wurde geschüttelt von einem heftigen Krampfanfall, dass mich zwei Leute zurücktragen mussten ins Haus, wo ich drei Tage im Bett lag, fieberte und schlief, und als ich wieder

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