Was wir erben (German Edition)
Armen unter den Achseln die Leiter heruntergleiten lassen. Ein paar von den anderen Soldaten seien inzwischen wach geworden und zu der toten Frau gekommen und einer fing an, sich wie wild zu bekreuzigen und ein anderer hielt ihm seine Pistole an die Schläfe, Schluss, aufhören, und der Soldat hielt seine Hand still und murmelte leise vor sich hin. Der Vater sagte, das sei ein Gebet gewesen, und dann habe Ursula im grünen Gras gelegen wie ein Engel und die Männer um sie herum, der Vater mitten unter den Soldaten, und einer der Soldaten habe ihn an die Hand genommen und ihn ins Haus gebracht. Inzwischen seien auch die Geschwister aufgewacht und sein Vater auch, aber der habe gar nichts gesagt und habe stumm das Haus verlassen, ohne noch ein einziges Mal nach Ursula zu sehen, und die kleine Schwester sei angerannt gekommen und habe mit einem Brief gewedelt und den habe der Vater an sich genommen, sei hinaus auf die Straße gegangen, um ihn zu öffnen, alleine, und dann habe er Ursulas letzte Zeilen gelesen.
Der Vater streckte beide Arme in die Höhe, so als hielte er ein Stück Papier, Ursulas Brief, in seinen Händen, weißer, trockener Speichel zwischen seinen Lippen.
Ich habe Ursulas Brief gelesen, sagte er. Da draußen auf der staubigen Straße. Ich habe ihn drei Mal gelesen, und ich wusste, warum mein Vater weggerannt ist. Ich habe den Brief gefaltet und in meine Hosentasche gesteckt, sagte der Vater, später bin ich auf den Friedhof und habe ihn vergraben. Aber vorher bin ich zu meinen Geschwistern gegangen und habe ihnen ausgerichtet, dass Ursula sie sehr geliebt habe, dass sie im Himmel immer an sie denken werde, dass es ihr leidtue, aber sie hätte nicht mehr weiterleben wollen.
Ich habe mir diese Szene immer und immer wieder vorgestellt. Wie die Kinder dastanden, um den großen Bruder herum, wie er ihnen verkündete, was in dem Brief stand, wie er verschwiegen hat, was wirklich in dem Brief stand. Ich habe den Vater an diesem Abend nicht gefragt, was für eine Botschaft Ursula hinterlassen hatte. Ich war an diesem Abend eine seiner Schwestern, ich habe seine Worte hingenommen, weil ich geschockt war von Ursulas Tod, weil ich mir nicht vorstellen wollte, was geschehen war. Erst ein paar Jahre später, als der dünne Faden, der den Vater und mich verbunden hatte, wieder gerissen war, da erst habe ich angefangen, mir solche Fragen zu stellen. War sein Vater Schuld an Ursulas Tod? War sie krank? Waren es doch die russischen Soldaten, die sie in den Selbstmord getrieben hatten? Das Bild spricht dafür, wie sie da hängt im Baum. Und unten in der Wiese die verkaterten Typen. Eine Anklage: diese tote Frau im Kastanienbaum.Natürlich denkt man sofort an Vergewaltigung und Schändung. Das ist das, was meine Fantasie bereitstellt an Deutung, diese Vorstellung davon, dass keine Frau sicher war vor den russischen Bestien. Wenn es so gewesen wäre, warum hätte der Vater seinen Geschwistern das verheimlichen sollen? Jeder hätte ihm bereitwillig geglaubt, wenn er die anwesenden Soldaten verantwortlich gemacht hätte für den Tod dieser Frau. Der Vater wollte Gerechtigkeit. So erkläre ich mir das. Aber so wie der Vater die Reaktion der Soldaten beschrieb, waren es nicht sie, die Ursula in den Baum gehängt hatten.
Es gibt niemanden mehr auf dieser Erde, der sagen könnte, was in diesem Brief stand.
Der Vater zerriss den imaginären Brief in seinen Händen. Die Show lief immer noch. Gerade trat
Fritze Flink
auf, ein schnoddriger Kabarettist, der einen Berliner Taxifahrer mimte und Geschichten aus seinem Taxifahrerleben zum Besten gab. Die Geschichten mündeten in einer Frage, die die Kandidaten zu beantworten hatten. Ich liebte seine Auftritte. Und es fiel mir schwer, am Boden liegen zu bleiben. Mit halbem Ohr versuchte ich, der Schnelligkeit seiner Worte zu folgen, und ich weiß noch genau, dass er an diesem Abend die Geschichte eines Ostdeutschen auf Westbesuch erzählte, und am Ende wollte er wissen, aus welcher Stadt dieser Mann ursprünglich stammte, und der Vater rief die Antwort, obwohl es nicht so aussah, als habe er wirklich zugehört, was
Fritze Flink
da erzählt hatte.Mitten in die Frage hinein rief der Vater,
Leipzig
, der kommt aus
Leipzig
, um dann übergangslos weiterzureden. Aus Leipzig, genau wie die Tante, die kam, um Ursula zu ersetzen. Es dauerte keine drei Tage, bis sie anrückte, die Schwester meiner Mutter, sagte der Vater, sie sollte sich um die Kinder kümmern und meinen Vater versorgen. Sie
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