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Was wir erben (German Edition)

Was wir erben (German Edition)

Titel: Was wir erben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: BjÖrn Bicker
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selbst hatte keine Kinder. Die Nachricht von der Verurteilung meiner Mutter traf bald ein, sagte der Vater. Vier Jahre Zuchthaus. Die Tante, sagte der Vater, gab ihr Bestes. Sie war das Gegenteil von Ursula. Sie war klein, hatte dunkle Haare und eine gebräunte Haut. Die Tante hatte O-Beine, sagte der Vater, und meine kleine Schwester nutzte jede Gelegenheit, durch die Beine hindurchzukriechen, und die Tante ließ solche Scherze bereitwillig zu. Sie befeuerte jeden Unsinn mit ihrem Lachen, sagte der Vater. Wir haben die Tante
Stumpen
genannt, wegen ihrer Statur, sagte der Vater und musste grinsen.
    Und dann begann eine schöne Zeit, sagte der Vater.
    Ich ging jeden Tag zu den Offizieren, sagte er, und übte mit ihnen russisch. Sie zeigten mir, wie man salutiert. Sie zeigten mir Bilder aus ihrer Heimat, sie sangen mit mir Lieder. Ursulas Tod hatte mich und die russischen Mitbewohner auf eigenartige Weise miteinander verbunden, sagte der Vater. Das beengte Leben auf dem Dachboden war für die Familie zur Normalität geworden, die Schule ging wieder los, du glaubst es nicht, sagte der Vater, wir freuten uns auf die Schule.
    Die Villa steht noch. In den Schilderungen des Vaters war sie riesig und prunkvoll. In Wirklichkeit ist es ein schmuckloses, vierstöckiges Haus mit einem großen Garten. Heute leben in diesem Haus Leute, die nichts mit unserer Familie zu tun haben. Ich weiß nicht mal, wem das Ding gehört. Ich habe mich nie dafür interessiert. Die frühe Enteignung führte dazu, dass der Besitz nach dem Zusammenbruch der DDR nicht wieder an die Familie zurückgegangen war. Genauso war es mit der Fabrik. Weg. Alles weg. Als ich nach dem Fall der Mauer da war, habe ich mich nicht getraut, irgendwo zu klingeln. Was hätte ich sagen sollen? Hallo, ich bin übrigens die, der das hier eigentlich alles gehört, aber machen Sie sich keine Sorgen, ich bin nur sentimental und wollte mal schauen, was hier so los ist? Ich war gehemmt. Das war eine Zeit, in der ich nichts wissen wollte vom Vater. Ich bin nur widerwillig auf dem Weg nach Berlin von der Autobahn abgefahren, weil Thomas die Stadt unbedingt sehen wollte. Die Dreiviertelstunde, die wir dort verbracht haben, hat mich verunsichert. Meine Schritte schienen plötzlich doppelt, alles hatte einen Hall, ein Echo, jedes Wort, das ich mit Thomas wechselte, hatte plötzlich eine neue, zweite Bedeutung. Die Straßennamen kamen mir vertraut vor, der Dom, der Friedhof. Es war fast fünfzig Jahre nach Kriegsende. Das nächste politische System war schon wieder zusammengebrochen. Ich sah den Menschen auf der Straße in die Augen und fürchtete, dass sie mich erkennen. Ich kam mir vor wie die Wiedergängerin meiner Großmutter.
    Du siehst ihr ähnlich, hat der Vater mal gesagt. Dieser Satz in meinem Kopf trieb mich zurück zum Auto, raus aus der Stadt.
    Frühjahr 1988, die Scham: Der Vater hatte längst wieder angefangen zu trinken. Die Schutzwälle aus Beschäftigung und Engagement, die er sich während seiner siebenjährigen Trockenphase aufgebaut hatte, bröckelten. Er durfte in der Kirchengemeinde nicht mehr als Laienprediger auftreten, seine politischen Weggefährten versuchten, ihn aus dem politischen Geschäft der Kleinstadt zu drängen. Eines Abends lief er volltrunken und fluchend durch die Straßen, beschimpfte wildfremde Menschen und bezichtigte jeden, der ihm begegnete, des Verrats. Was der Vater mir immer wieder erzählt hatte: Sein eigener Vater sei kurz vor Kriegsende, die Rote Armee stand schon vor der Stadt, betrunken mit der schwarz-weiß-roten Parteifahne durch die Stadt gelaufen und habe lautstark zum Kampf gegen die Bolschewisten aufgerufen. Ein Nachbar habe ihn von der Straße gezerrt und ihn in seinen Keller eingesperrt.
    Den Vater rettete niemand. Er schlief neben dem Brunnen vor dem Rathaus ein und wurde am Morgen von den beiden Gemeindearbeitern gefunden. Sie riefen die Polizei, was einen mittleren Skandal verursachte. Die Lokalzeitung berichtete über die Entgleisung. Der Vater war nicht länger tragbar.
    Thomas und ich verließen Naumburg fluchtartig. Wir sprachen kein Wort mehr bis Berlin. Das war kurz vor dem Ende meiner Schauspielausbildung. Ich hatte ein paar Vorsprechen an verschiedenen Theatern. Erst in München, dann in Berlin. Thomas wollte mich unbedingt begleiten. Schließlich war ich sein Geschöpf. Das glaubte er. Für meine Familiengeschichte interessierte er sich nicht besonders. Das war mir recht. Er kam aus einer niederösterreichischen

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