Was wir erben (German Edition)
an die Briefe erinnerte und sie ein zweites Mal, gründlicher, lesen wollte, weil ich mich plötzlich für meinen Großvater interessierte, ich hatte im Katalog der Wiener Universität einen seiner Buchtitel gefunden, rief ich die Mutter an und fragte sie nach den Briefen. Aber die Mutter konnte sich an die Briefe nicht erinnern. Ich wusste nicht, dass es diese Briefe gab, sagte sie. Als ich in der leeren Wohnung des toten Vaters stand, habe ich die Briefe gelesen. Ein verletzter Tonfall ist zurückgeblieben, ein beleidigter Einschlag, den ich sofort zu hören meine, wenn ich an die Bögen denke. In diesen Briefen beklagte sich der Großvater wortreich über die Ungerechtigkeit, dass Leuten wie ihm keine Dankbarkeit entgegengebracht wurde, ihm, der jahrelang an der Entwicklung des Instituts zu einer Einrichtung von Rang gearbeitet habe, dass man ihn vertreibe aus dem Haus der Wissenschaft, dass man ihn an den Pranger stelle. Auch der Zeitenwechsel hätte ihm nicht plausibel machen können, warum seine Forschungen mit einem Mal nicht mehr erwünscht seien. Wahrheit sei schließlich Wahrheit und Wissenschaft sei Wissenschaft. Er beklagte sich über die opportunistischen Kollegen,die im Dienst bleiben durften, weil sie sich öffentlich distanzierten von dem, was sie noch ein halbes Jahr zuvor schweigend hingenommen hatten, nämlich, dass die Archäologie im Dienste des deutschen Volkes wichtige Erkenntnisse geliefert habe über die Entstehung der deutschen Kultur. Das Wort Rasse kam in seinen Briefen nicht mehr vor.
Und was er verschwieg, sagte der Vater, was er verschwieg in seinen Briefen, war seine Mitgliedschaft in der NSDAP, seine jahrelange Mitgliedschaft in der NSDAP, schon lange vor der Machtergreifung durch Hitler war er, mein Vater, sagte der Vater, war mein Vater in der Partei. Er fuhr fort, die Geschichte des Großvaters zu erzählen, wie der Großvater im Sommer im Garten saß und trank, dass er nichts mehr tat, außer da zu sitzen und zu trinken, und der Vater war völlig außer sich, er richtete sich auf und schlug mit der Stirn gegen die Tischkante. Scheiße, schrie er, verdammte Scheiße. Er legte sich wieder hin. Seine Hand landete diesmal auf meinem Rücken. Er trank Rotwein, sagte der Vater, Rotwein aus Wassergläsern, und als meine Mutter im Gefängnis war und die russischen Soldaten in unserem Haus lebten und Ursula längst begraben und die Tante vor Ort, da musste ich ihn jeden Abend aus dem Garten ins Haus führen, sonst hätte er draußen geschlafen, wo er im Winter erfroren wäre. Manchmal war er nackt, da musste ich ihm seinen Bademantel bringen, damit er sich bedeckte, alle hatten Angst, dass die Russen das nicht mehr lange mitmachten, aberdie störte das nicht, sagte der Vater, die lachten über einen Großvater, der sie keines Blickes würdigte, er saß einfach da und trank.
Ich hab den Namen des Großvaters in den Zettelkästen der Wiener Universitätsbibliothek gesucht. Einen seiner Aufsätze, der 1939 in einer archäologischen Fachzeitschrift erschienen war, habe ich in den Lesesaal kommen lassen und kopiert.
Die Herkunft des europäischen Homo sapiens im Lichte neuer Werkzeugfunde
. Das hört sich unverfänglich an, sehr speziell, so als könnte man damit als Vortrag bei der Nerd-Night punkten. Aber in jeder Zeile, in jeder formulierten Erkenntnis dieser Forschung ging es immer nur darum, die Überlegenheit und die Ursprünglichkeit der deutschen Rasse nachzuweisen. Der Großvater wollte diesem verlockenden Bild des Herrenmenschen einen kleinen, entscheidenden Mosaikstein hinzufügen. Das trieb ihn an. Die Einzigartigkeit des deutschen Menschen sollte hervorgehoben werden. Und zwar mittels seiner Werkzeuge. Erst wurde gegraben und dann beschrieben: Schnitztechniken, Schneidekunst, Steinbehau. Erdschichten wurden abgetragen, um dann sagen zu können: So war’s und nicht anders. Und weißt Du, was das Besondere ist: Du brauchst als Archäologe keine Menschen zu beobachten, um etwas rauszufinden. Du redest über Steine, über Keile, Kreisel, Kegel, du schrubbst an dem Zeug mit Bürsten und Feilen rum.
Während der letzten Vereisung tritt in Europa eine Kultur auf, deren Hauptkennzeichendie vom Feuersteinblock abgeschlagene, mehr oder weniger schmale Klinge ist, aus der die Werkzeuge gefertigt werden. Die älteste Stufe dieser Klingenkultur führt den Namen Aurignacien. Dieses Aurignacien wird getragen vom homo sapiens fossilis oder von der alteuropäischen Langkopfgruppe, in der die
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