Was wir erben (German Edition)
Bauernfamilie und für ihn war Familiengeschichte sowieso die ewige und harmlose Wiederholung des immer gleichen. Darüber musste man nicht groß reden. Er stand auf dem Fundament einer ungebrochenen Tradition, die es ihm sogar erlaubte, Schauspieler in Wien zu werden. Sein Erbe: die Fähigkeit, sich ganz und gar auf eine Sache zu konzentrieren, das Können, sich selbst und das, was man tut, unbedingt ernst zu nehmen. Für ihn gab es nur das Theater und seine Rollen und das Reden darüber, wer an welchem Theater inszenierte, wer wo spielte. Er konnte stundenlang über eine Inszenierung sprechen und darüber, wie dieser oder jener Schauspieler diese oder jene Rolle gespielt hatte, und vergleichen und rumkritteln und sich aufregen und beschreiben, wie man es anders hätte machen können. Er war stolz, zu dieser Art von kultureller Elite zu gehören, für ihn waren die Stücke, die er spielte, so etwas wie Offenbarungen. Shakespeare oder Tschechow, das waren für ihn Synonyme für Werte, die man nicht hinterfragt, die man zelebriert, für die es sich lohnte, seine gesamte Lebensenergie aufzubringen.Als wir in Berlin angekommen waren, wollte er am Abend noch mal meine Rollenausschnitte abhören. Nein, sagte ich, ich bin zu müde. Thomas wollte sich damit nicht zufriedengeben. Und je mehr er versuchte, mich zu motivieren, um so weniger Lust verspürte ich, mich auf das Vorsprechen vorzubereiten. Aber Thomas ließ nicht locker. Irgendwann wurde ich wütend. Auf Thomas, auf die Rollen, die ich mit ihm vorbereitet hatte, auf die Situation, ich fing an, auf ihn einzuschlagen, und er hielt mich an den Armen fest und lachte. Er sagte, du bist ja nervös, oder irgendeinen ähnlich verblödeten Satz, ich weiß es nicht mehr genau. Ich wusste, dass das nicht stimmte, aber ich wusste damals nicht, woher diese Wut kam. Ich hatte unsere Visite in der Stadt des Vaters schon verdrängt und ich machte Thomas’ Hartnäckigkeit verantwortlich und ich spürte: Das ist das Ende unserer Freundschaft. Ich fing an zu schreien und zu heulen und ich beruhigte mich gar nicht mehr. Ich wollte nicht länger, dass er glaubte, ich laufe als Produkt seiner Zurichtungen durch die Welt. Ich fühlte mich eingesperrt in seinen Vorstellungen davon, wie ich sein sollte. Bis dahin hatte ich alle Erwartungen, die er an seine kleine Schauspielerin hatte, bereitwillig erfüllt, ich war zickig, ich redete unentwegt über mich selbst und über das Theater im Allgemeinen, ich war auf eine ganz bestimmte Weise unnahbar und genau diese Unnahbarkeit war es, die Thomas an mir mochte. Sie schützte ihn vor mir und gleichzeitig spornte sie ihn an. Und dann wurde es Thomas wohl zu bunt. Er schubstemich irgendwann gespielt lustlos gegen die Wand unseres kleinen Hotelzimmers, nahm seine Jacke und verschwand. Das Vorsprechen am nächsten Tag ließ ich ausfallen. Ich fuhr alleine mit dem Zug zurück nach Wien.
Der Vater hatte sich im Wohnzimmer zu mir gedreht. Die Haare hingen zur Seite runter. Der Junge, von dem er eben noch berichtet hatte, lag jetzt neben mir, gealtert, ein fremdartiges Reptil. Es sah aus, als hätte er einen schweren Stein in der Backentasche, die Schwerkraft zog seine Gesichtshälfte nach unten. Die Narbe war kaum noch sichtbar, sie hatte die gleiche rötliche Farbe wie der Rest der Haut. Der Vater hob seinen Arm und ließ die Hand auf meine Hüfte fallen. Ich spürte die Innenseite seiner Hand. Meine ganze Wahrnehmung konzentrierte sich in diesem Augenblick auf meine Hüfte. Ich existierte nur noch als dieser eine Körperteil, als dieser von einer dünnen Fettschicht und ein paar Sehnen und Haut und einem Schleimbeutel bedeckte Knochen, auf dem, nur getrennt durch den dünnen Frottierstoff meines Schlafanzuges, die Hand des Vaters lag. Und die Narbe?, fragte ich ihn ängstlich, was ist mit der Narbe? Der Vater sprach von seinem Vater, von dessen Arbeit als Archäologe. Diese Arbeit war alles für ihn, sagte der Vater, die Forschung, die Kollegen. Nach dem Krieg haben sie ihn aus dem archäologischen Institut entfernt, sagte der Vater. Erst viel später, sagte er, habe ich erfahren, worum es in seinen Forschungen ging, erst als ich die Briefe las, die er geschrieben hat an denneuen Institutsleiter, erst da habe ich begriffen, worum es ging.
Die Briefe des Großvaters, von denen der Vater an diesem Abend geredet hatte, habe ich in seiner Schreibtischschublade gefunden, als wir nach seinem Tod die Wohnung ausgeräumt haben. Später, als ich mich wieder
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