Was wir erben (German Edition)
Sofa.
Der große Preis
war vorbei.
Hast Du unter jeden Teppich, in alle Koffer, Taschen, Kisten, Schränke geschaut? Alle Polster aufgeschnitten, alle Schlüssel ausprobiert, alle Teller, Tassen, Töpfe umgedreht?
Jede Erinnerung abgeklopft?
Wo ist Deine Mutter aufgewachsen?
Wie hat sie den Vater kennengelernt?
Warum ist sie nach Amerika gegangen?
Noch zehn Tage, dann sind Theaterferien. Sechs Wochen. Ich werde die Mutter besuchen. Es muss irgendwelche Anhaltspunkte geben.
Wien, Sommer 1995. Das Telefon klingelt. Die Mutter ist dran und ich weiß sofort, was los ist. Er ist tot, sagt sie. Ich weiß, antworte ich. Sie sagt: Ich habe ihn auf dem Sofa in seinem Appartement gefunden. Er hatte nur seinen Bademantel an. Sonst nichts. Er sah schlimm aus. Ist gut, sage ich. Ich komme. An die Reise kann ich mich nicht erinnern.
Der Vater hatte so exzessiv getrunken, dass er seine Wohnung nur noch zum Nachschub holen verlassen hatte. Das Appartement war seine Todeszelle. Überall Müll.Leere Flaschen. Dreckige Klamotten. Umgestoßene Aschenbecher. Alle Dinge in der Wohnung waren mit einem klebrigen Schmutzfilm überzogen. Der Abfalleimer quoll über. Bücher, die er sich vor Zeiten aus der Stadtbücherei ausgeliehen hatte, lagen herum. Geschichte. Philosophie. Archäologie. Wirtschaft. Auf der Suche nach Lebenszeichen, nach Notizen, nach Botschaften habe ich jedes einzelne Buch Seite für Seite durchgeblättert. Nichts Nennenswertes. Ich saß da auf dem fleckigen Teppichboden und packte die Bücher in Tüten. Es stank nach verfaulten Essensresten, nach Pisse. Auf dem Schreibtisch lag, neben einem Hotelprospekt aus Wien, ein beschriebenes Blatt Papier. In bemüht ordentlicher Handschrift stand darauf: Im Falle des Todes: 1.) Bestatter anrufen. 2.) Restschuldversicherung. 3.) Mietvertrag kündigen. 4.) Bücher in die Bibliothek bringen. Das war sein soldatischer Nachlass. Auf dem Weg nach draußen habe ich in den Aufzug gekotzt.
Als ich am Abend bei der Mutter in der Wohnung saß, haben wir schweigend Brote gegessen. Und irgendwann sagte sie: Du kannst ihn noch mal anschauen, wenn du willst. Der Bestatter rate zwar davon ab, aber wenn es unbedingt sein müsse, richte er den Leichnam, so gut es gehe, her. Das koste extra, habe der Bestatter gedroht, aber man sterbe schließlich nur einmal im Leben. Wir mussten lachen, weil wir den Bestatter kannten. Dein Vater lag auf dem Sofa, sagte die Mutter, in diesem alten, braun gestreiften Bademantel. Sie kaute auf einer Brotkrusteherum und schaute aus dem Fenster. Man sah alles, Bauch, Schwanz, das käsige Bein hing vom Sofa auf die Erde hin unter. Aber der Scheitel saß, dieser verfluchte Scheitel. Ich habe mich auf die dreckige Tischkante gesetzt und seine Hand gehalten, sagte die Mutter. Die Fingernägel waren sehr lang. Und dann habe ich gewartet, bis der Bestatter kam, sagte sie leise. Ich habe sie gefragt, ob sie seine Hände gemocht habe. Nein, hat sie gesagt, ich hatte Angst vor seinen Händen.
Ich ging am nächsten Tag auf den Friedhof. Der Bestatter begrüßte mich mit gesenktem Haupt und führte mich zu der Halle, in der die Leiche des Vaters in einem Kühlraum aufgebahrt lag. Der Bestatter hatte dem Vater seinen schwarzen Anzug und ein weißes Hemd angezogen. Der Vater hatte nur ein Auge geschlossen. Er glotzte in meine Richtung. Es bleibt einfach nicht zu, entschuldigte sich der Bestatter. Ob das etwas zu bedeuten habe, fragte ich ihn. Das komme vor, sagte er, das geöffnete Auge. Meistens bei Männern. Das Auge bleibe dann geöffnet, wenn noch ein paar Rechnungen zu begleichen seien. Ich legte dem Vater einen seiner Orden in den Sarg und streifte dabei seine Hand. Die war kalt. Eiskalt. Das ist verboten, sagte der Bestatter, Umweltschutz. Kein Metall in den Sarg. Wer soll das denn überprüfen, fragte ich ihn und sah ihn streng an. Niemand, sagte er, niemand. Resigniert schloss er den Sargdeckel und schob mich aus dem Kühlraum. Draußen brannte die Sonne. Die Hitze knallte gegen meine Stirn wie ein Hammer. Ich hatteAngst, dass mein Kopf zerspringt. Ich fiel hin. Der Bestatter beugte sich zu mir herunter. Es haut einen um, sagte er. Sein fauliger Atem legte sich über mein Gesicht und ich verlor das Bewusstsein. Als ich wieder wach war, saß der Bestatter neben mir auf dem Boden. Er hatte mich in den Schatten verfrachtet und mir Wasser über den Kopf geschüttet. Die Leber, sagte er, die Leber war so geschwollen, dass es aussah, als hätte er einen Fußball
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