Was wir erben (German Edition)
Mutter? Hat er die geschlagen? Nein, rief ich, niemals. Warum hat sich dein Bruder umgebracht?
Sven war mit dem Sohn des Bestatters befreundet gewesen. Einmal kam er nach Hause und berichtete davon, dass er und sein Freund eine Leiche gewaschen hätten. Die Mutter war schockiert und rief den Bestatter an, um ihn davon zu überzeugen, dass es besser wäre, die Jungen nicht an den menschlichen Leichen herumspielen zu lassen. Aber es half nichts. Ein andermal hatte Sven beim Abendbrot berichtet, dass er gemeinsam mit Andreas einer Frauenleiche die Finger gebrochen habe, um die Hände zum Gebet zu falten.
Der Bestatter rückte näher. Ich konnte ihn nicht beerdigen damals. Das ging mir zu nahe, sagte er. Das musste der Kollege aus dem Nachbarort machen.
Sven war mitten im Abitur. Ich weiß nicht, warum er sich das Leben genommen hat, sagte ich. Ich war erst neun.
Der Bestatter beklagte sich, wie deprimierend es sei, andauernd nur Leute zu begraben, die man kannte. Die meisten Beerdigungsgäste waren schon gegangen. Der Bestatter stand plötzlich auf. Er manövrierte seinen massigenKörper zwischen den Tischen hindurch, verabschiedete sich im Vorbeigehen von den übrig gebliebenen Gästen, umarmte die Mutter und rief noch einmal lautstark in meine Richtung: Es ist einfach deprimierend!
Ich kam gerade aus der Schule. Die Mutter saß in der Küche. Sie hockte da und schälte Kartoffeln. Irgendetwas stimmte nicht, das spürte ich sofort. Er ist tot, hat sie gesagt. Er hing in der Garage. Er hatte den Stahlhelm auf. Die Sanitäter haben ihn auf eine Bahre mitten in die Garage gelegt. Und dann haben sie ihn weggebracht. Den Stahlhelm haben sie liegen gelassen.
Heute würde ich das so erzählen: Sven wollte den Wehrdienst verweigern. Es war für ihn völlig undenkbar, zur Bundeswehr zu gehen. Damals musste man allerdings eine Begründung schreiben, wenn man nicht zum Militär wollte, und anschließend gab es eine Verhandlung vor einer Kommission. Und in diesen Verhandlungen sollte überprüft werden, ob man wirklich aus Gewissensgründen keine Waffe in die Hand nehmen konnte, oder ob man sich einfach vor dem Militärdienst drücken wollte. Oder, was noch schlimmer war, ob der Verweigerung womöglich politische Motive zugrunde lagen. Bei Sven war die Lage klar. Er hatte alle erdenklichen Gründe, nicht zum Militär gehen zu wollen. Er war Pazifist. Er lehnte unseren Staat ab, er nannte sich selbst Anarchokommunist. Er hatte lange Haare, die bis zum Hintern reichten. Als Sven klein war, kam der Vater nachts betrunken an seinBett und las ihm stundenlang aus der Bibel vor. Später beschimpfte er ihn. Versager, nannte er ihn, Null. Er schikanierte ihn. Immer wieder. Sven hat versucht, sich vor dem Vater zu verstecken. Er hat es vermieden, mit ihm zu essen, er hat das Haus verlassen, bevor der Vater kam, er hat versucht, so oft wie möglich bei Freunden zu übernachten. Die Mutter hat ihm Geld zugesteckt, seine Wäsche bereitgelegt, ihn informiert, wenn der Vater nicht zu Hause war. Als der Vater trocken war, wurde nicht über diese Zeit gesprochen. Kein Wort.
Die Kommission stellte die üblichen Fangfragen. Ob er seine Freundin mit der Waffe aus der Gewalt eines Vergewaltigers befreien würde. Ob er einen Menschen töten könne, wenn er genau wüsste, dass er tausend anderen Menschen damit das Leben retten könnte. Sven war vorbereitet auf die Fragen, und als er alle Manöver der Kommission pariert hatte, da zog der Vorsitzende einen Brief aus den Akten. Es war ein Brief des Vaters an die Kommission. In diesem Brief bat der Vater, die Kriegsdienstverweigerung seines Sohnes nicht anzuerkennen, da er sich sicher sei, dass sein Sohn nicht von pazifistischen Überzeugungen geleitet sei, sondern diese nur vorgeschoben habe, weil er in Wirklichkeit ein kommunistischer Feind unseres Staates sei und nichts anderes im Sinn habe, als die freiheitlich-demokratische Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland zu untergraben. Der Sohn sei erwiesenermaßen Mitglied in diversen kommunistischen Schüler- und Studentenvereinigungen. Der Brief istauch von Ihrer Mutter unterzeichnet, sagte der Vorsitzende. Die Verhandlung wurde beendet. Drei Tage später hing Sven in der Garage. Drei Wochen danach kam die Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer.
Naumburg, Winter 1952. Der Vater ist siebzehn. Sie holen ihn abends ab. Sie schleifen ihn durch die Stadt in die Polizeizentrale. Dort lassen sie den Oberschüler drei Tage in einer rund um die Uhr
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