Was wir erben (German Edition)
verschluckt. Ich wollte aufstehen, aber ich konnte nicht. Warum habt ihr ihn alleine sterben lassen?, fragte der Bestatter. Weil er getrunken hat, sagte ich ihm. Weil man mit einem Trinker nicht zusammenleben kann. Das verstehe ich nicht, sagte der Bestatter. Was ist denn daran so schlimm, wenn einer trinkt? Ich spulte mein angelerntes Programm ab, wie es ist, mit einem Alkoholiker zu leben, wie man mit ihm umgehen müsse, dass es nur einen Weg geben könne, nämlich den Trinker so weit abstürzen zu lassen, bis er sich selbst helfen wolle. Ich erzählte von der ständigen Angst vor dem nächsten Rückfall. Ich erklärte ihm alles über Co-Abhängigkeit, ich redete über die Fesseln, die Befangenheit der Angehörigen, über die Kraft professioneller Hilfe. Ich überschüttete den Bestatter mit meinen Erklärungen und legte alles so zurecht, dass ich selbst daran glauben konnte. Ich sprach von Scham. Von Ohnmacht. Ich berief mich auf die einschlägige Fachliteratur, die ich gelesen hatte. Kein Wort von meinen Gefühlen. Als ich fertig war, stand der Bestatter auf, reichte mir seine schwitzige Hand und zog mich nach oben. Erzog mich ganz nah an sich ran. Aus den Poren seines fleischigen Gesichts drang Schweiß. Tot ist er jetzt trotzdem, sagte er.
Die Trauergemeinde stand vor der weit geöffneten Einsegnungshalle und alle blickten auf den Pfarrer, der sich vor dem Sarg aufgebaut hatte. Mit gestreckten Armen hielt er eine schwarze Kladde vor sich in die Luft und las seine Trauerrede ab. Er sah aus wie eine Krähe. Ich konnte mich nicht darauf konzentrieren, was er sagte. Ich musste auf Toilette. Es wurde mit jeder Minute schlimmer. Es gab weit und breit kein Klo. Ich konnte auch nicht unbemerkt in den Wald verschwinden. Alle hätten mich gesehen. Während der Pfarrer sprach, fuhr im Hintergrund ein olivgrüner VW-Bus auf den Parkplatz des Waldfriedhofs. Fünf uniformierte Soldaten sprangen aus dem Wagen und liefen hastig Richtung Einsegnungshalle. Einer trug eine zusammengelegte Deutschlandfahne vor sich her. Die Gruppe bestand aus vier jungen Wehrpflichtigen und einem älteren Vorgesetzten. Die Soldaten waren zu spät. Der Pfarrer unterbrach seine Ansprache und schloss die Augen. Die Soldaten legten die Fahne über den Sarg. Sie zupften so lange an dem Stoff herum, bis der Adler mittig auf der Holzkiste lag. Der Vorgesetzte stand salutierend an der Seite. Die vier Jungen stellten sich neben ihn. Der Pfarrer sprach weiter. Die Trauergemeinde ließ sich nichts anmerken. Ich hatte Angst, dass meine Blase platzt. Als der Pfarrer fertig war, nahmen die Soldaten denSarg und trugen ihn zum ausgehobenen Grab. Die Soldaten spielten ernste Trauermiene, was die Sache besonders unernst werden ließ. Um mich von meinem quälenden Harndrang abzulenken, versuchte ich mir vorzustellen, was den Typen durch den Kopf ging. Der eine spielte die bevorstehende Trennung von seiner Freundin durch. Der andere war mit seinem Ekzem auf dem Rücken beschäftigt. Der Dritte zählte unentwegt von eins bis tausend und der Vierte malte sich aus, wie er dereinst als General mit militärischen Ehren zu Grabe getragen wird, aber wieder aufwacht und die Trauergemeinde als Zombie niedermetzelt. Ich konnte kaum noch laufen. Ich hielt die Luft an. Ich schob die Füße langsam über den erdigen Boden des Friedhofs. Als wir vor dem Grab standen, wurde mir schwarz vor Augen. Der Bestatter stand plötzlich neben mir. Er hakte sich bei mir ein und stützte mich. Es sah wohl so aus, als würde mich die Beerdigung mitnehmen. Ich flüsterte ihm mein kleines Geheimnis ins Ohr. Er grinste kurz, und anstatt laut loszulachen, verfinsterte er seine Miene sehr professionell, legte seinen schweren Arm um mich und führte mich ganz gemächlich aus der Traube der Trauernden hinaus. Hinter die Einsegnungshalle. Instinktiv fing ich auf dem Weg an, zu schluchzen, damit alle glauben konnten, ich sei einem Nervenzusammenbruch nahe. Hinter der Halle hockte ich mich hin und pinkelte in die Blumenerde. Der Bestatter drehte sich um und hielt Wache. Als ich fertig war, grinste er breit. Du bist eine gute Schauspielerin, sagte er. Gelernt ist gelernt,antwortete ich. Er brachte mich wieder zurück zum Grab. Der Sarg war eingelassen. Gerade waren die Letzten dabei, dem Vater Erde auf die Holzkiste zu werfen. Und dann ich: drei Ladungen warme, braune Erde.
Später beim Leichenschmaus kam der Bestatter zu mir. Hat er euch geschlagen, fragte er mich. Nein, habe ich gesagt. Und deine
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