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Was wir erben (German Edition)

Was wir erben (German Edition)

Titel: Was wir erben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: BjÖrn Bicker
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beleuchteten Zelle sitzen, dann bringen sie ihn in ein abgedunkeltes Zimmer mit einem Tisch und einem Telefon. Wieder muss er stundenlang warten. Dann beginnt endlich das Verhör. Was er in der Kirche so treibe. Was ihm der Pfarrer für Geschichten erzähle. Ob er sich als Staatsfeind sehe. Ob er am Aufbau des Landes teilnehmen wolle. Ob er ein vernünftiger, begabter Junge sei. Ob er Abitur machen wolle. Studieren. Sie reden zu zweit auf ihn ein. Der Vater sagt kein einziges Wort. Nach zwei Tagen verlieren die Vernehmer die Geduld. Der Vater muss sich bis auf die Unterwäsche ausziehen. Sie bringen ihn zum Ausgang. Es ist Winter. Sie schubsen ihn durch den Eingang auf die vereiste Straße. Der Vater läuft frierend durch die Gassen. Alle sehen ihn. Alle wissen, wo er herkommt.
    Der Vater hat diese Geschichte immer wieder erzählt. Die Erniedrigung kam in seiner Erzählung nicht vor. Die Niederlage hörte sich an wie Überlegenheit. Die Bitterkeit wurde in Spott verkleidet.
    Beim Ausmisten seines Appartements habe ich dieKopie eines Zeitungsartikels gefunden, in dem es um die Unterwanderung der FDJ-Arbeit an der neu gegründeten Oberschule in Naumburg durch jugendliche Elemente ging. Elemente, die sich einer illegalen Organisation, der sogenannten Jungen Gemeinde, angeschlossen hatten. Der Vater wird namentlich als verschworener Feind der Republik genannt. Er, der zuständige FDJ-Funktionär für Agitation, Propaganda und Kultur, er, der Fabrikantensohn, der durch die feige Flucht in den Westen bewiesen habe, auf wessen Seite er wirklich stehe, sei ein Klassenfeind. Noch zwei Namen: Der Arbeiter Gustav Lüders habe die Untersuchungen durch einen Beschwerdebrief erst ins Rollen gebracht, da seine Tochter, Marianne Lüders, von den feindlichen Elementen bedroht worden sei, weil sie versucht habe, die Fahne der Revolution, die Ziele der Arbeiterklasse, im innerschulischen Kampf hochzuhalten.
    Der Artikel lag in dreifacher Ausführung, geschützt durch einen grünen Papphefter, in seiner Schreibtischschublade. Bei den Briefen seines Vaters.
    Im Netz habe ich über die Leute aus dem Artikel nichts gefunden.
    Eines Abends sagte die Tante zum Vater: Hau ab! Verschwinde! Such dein Glück woanders. Hier wirst du nichts. Die Tante gab ihm einen Umschlag mit einem Empfehlungsschreiben. Auf dem Umschlag eine Adresse in Frankfurt am Main. Dort lebte die dritte Schwester und ihr alter Mann, von dem sich alle erzählten, dass er imGeld schwimme. Ich stelle mir vor, dass der Vater Angst bekam. Vielleicht ist er sofort los zu diesem Gemeindehaus neben der Kirche, wo sie sich mit dem Pfarrer trafen, um zu diskutieren, zu singen, zu beten, vielleicht traf er dort seine Freundin und erzählte ihr von dem Brief. Den anderen sagte er nichts, um seine Flucht nicht zu gefährden. Das Mädchen, das auch in seiner Klasse war, wusste, dass dieser Moment kommen würde. Sie gingen ein letztes Mal zusammen an den Fluss, sie warfen Steine ins Wasser, hielten sich an der Hand, küssten sich, sie schworen sich ewige Treue, so wie man das in diesem Alter macht. Sie erklärten die Welt für verloren. Am Abend packte der Vater seine Tasche, und noch bevor die Sonne aufging, schlich er zum Bahnhof. Das Mädchen wartete dort auf ihn, um sich ein letztes Mal zu verabschieden. Als der Zug Richtung Berlin losfuhr, stand sie da auf dem Bahnsteig und malte sich aus, wie sie ihm eines Tages folgen würde. Sie stellte sich eine strahlende Zukunft vor. Mit Kindern und einem Beruf, der ihr Spaß machte. Vielleicht glaubte sie, dass der Abschied nur eine läppische Prüfung war auf dem Weg in eine glückliche Zukunft. Haarklein hatte die Tante dem Vater erklärt, wie er über den Bahnhof Friedrichstraße mit der S-Bahn in den Westen kommen konnte. Von dort ging es weiter nach Frankfurt. Die Tante wusste schon, dass er kommen würde. Sie begrüßte ihn zurückhaltend. Der Vater hatte sich gefreut, dass seine Flucht gelungen war. Er wollte sein Abitur machen, weil er zu Hause von der Schule geflogen und anschließend geflohenwar. Studieren. Ein sinnvolles Leben führen. Die Tante bat ihn in ihr Wohnzimmer, dort solle er sitzen bleiben, bis ihr Mann von der Arbeit nach Hause komme. Als ihr Mann kam, hörte der Vater dessen kreischende Stimme schon aus dem Flur des Hauses. Der Onkel öffnete die Flügeltür des Wohnzimmers und trat majestätisch in den Raum. Der Vater stand auf und streckte ihm die Hand entgegen. Schön, sagte der Onkel, schön. Da ist er also, unser

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