Was wir erben (German Edition)
Wurzeln des mediterranen und des nordischen Menschen von heute zu suchen sind.
Am Ende soll es keinen Zweifel mehr daran geben, dass der
sapiens
, dass der, der denken kann, der, der die Krone der Schöpfung sein soll, dass dieser Mensch von hier, aus unseren Breitengraden stammt.
Du willst wissen, wo Du herkommst. Du willst wissen, wer Dich gezeugt hat. Du willst wissen, wer Dein Vater war. Was er getan hat. Wie er gelebt hat. Ich frage mich: Kannst Du daraus irgendetwas ableiten, was Dich betrifft? Als junges Mädchen wollte ich Archäologin werden. Dann Ärztin. Und jetzt bin ich eine Schauspielerin, die mit einem Arzt zusammen ist und in ihrer Vergangenheit gräbt, weil ihr halber Bruder aufgetaucht ist.
Eins wuchert im anderen rum.
Der Vater unter dem Tisch: Als meine Mutter im Gefängnis war, sagten alle, sie sei
fort
, sie müsse sich erholen. Ich wusste längst, was los war, sagte der Vater, aber die Geschwister, die verstanden gar nichts. Ich habe versucht, es ihnen zu erklären, sagte der Vater, aber dann liefen sie rum und verkündeten stolz: Unsere Mutter ist eine Diebin.Sie hat dem Volk sein Eigentum gestohlen. Aber das Volk hat es uns zuerst weggenommen. Der Vater lachte. Er richtete sich auf und zog mich zu sich hoch. Ich hatte die zerfurchte Tischkante im Blick. Der Vater erzählte von seinem Chemie-Labor, das er sich auf dem Dachboden der Villa eingerichtet hatte, von den Kolben, Pipetten, Rohren, Schalen, Mörsern, die den Krieg unbeschadet überstanden hatten. Das war ein Paradies, sagte er. Du siehst ja gar nichts, rief er und setzte mich auf seine Schultern. Er hielt mich an den Unterschenkeln fest und redete weiter. Wir hatten so viel Chemikalien, sagte er, und erzählte von seinen Verstecken, die er über die ganze Stadt verteilt hatte, sogar im Dom habe er ein Lager angelegt.
Während des Krieges produzierte die Fabrik Sulfonamid für die Verwundeten. Für die Entzündeten. Für die von Bakterien Befallenen. Das war der Grund, warum der Großvater nicht in den Krieg musste. Seine Frau hatte ihn für unabkömmlich für die Produktion
des
Stoffes erklärt, der den deutschen Soldaten das Leben retten sollte. Für die deutschen Soldaten gab es noch kein Penicillin.
Als der Krieg aus war, wurden die Maschinen und Geräte für die Produktion aus der Halle gebracht und auf ein Feld gestellt, um später in ein anderes Land verschickt zu werden. Ich saß auf dem Dachboden, sagte der Vater, und experimentierte mit meinen Chemikalien, die ich gerettet hatte, Schwefel, Kaliumpermanganat, Alkohol, Destillat, ich ließ es rauchen, ich träumte. Hier oben würde die neue Fabrik entstehen, das neue Wundermittel, das alle Krankheitendieser Welt heilen konnte. Meinem Vater, sagte er, klaute ich Wein mit meinen gläsernen Pipetten. Ich trank den blutroten Wein und fühlte mich groß und stark und mein Glaube glühte noch leidenschaftlicher, der Glaube an meine Erfindung, die die Welt von allen Krankheiten befreien sollte. Und dann wurde meine Mutter wieder aus dem Gefängnis entlassen. Ich war sechzehn. Das Labor war längst zu einem Matratzenlager geworden. Dort las ich Bücher, sagte der Vater feierlich. Den ganzen Sommer über, allein. Am Abend floss der Mond durch die kleine Luke über meinem Lager. Ich fing an, Gedanken aufzuschreiben, sagte der Vater. Es gab ein Mädchen, sagte der Vater, es gab die Schule, es gab die neuen Lehrer. Es gab den Pfarrer in der Kirche. Es gab die Treffen bei ihm. Es gab die anderen Jungs. Es gab meinen Vater, der sich jeden Tag mehr zu einem Gespenst entwickelte.
Ich hatte den Fernseher wieder im Blick.
Der große Preis
war schon fast vorbei, die Kandidaten saßen in ihren Raumkapseln, abgeschirmt von drohenden Einflüsterungen. Thoelke war also gerade dabei, die letzte Fragerunde auszuspielen, die Kandidaten öffneten, einer nach dem anderen, ihre Umschläge, in denen die ultimativen Fragen steckten, die Uhr tickte, genau sechzig Sekunden hatte jeder Zeit, das bisher erspielte Geld durch richtige Antworten zu verdoppeln. Ich hatte Angst, der Vater könnte jetzt schon, viel zu früh, unser Zusammensein beenden, noch bevor er die Geschichte von der Narbe erzählt hatte. Das durfte nicht sein, ich war wieder hellwach und ichwünschte mir so sehr, dass der Vater wieder die Spur seiner Erzählung aufnahm, der Schlussapplaus drang schon zu uns und Thoelke bat alle Gäste der Sendung noch einmal auf die Bühne, die Sänger, die Kandidaten, die Experten, alle, und die Leute
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