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Was wir erben (German Edition)

Was wir erben (German Edition)

Titel: Was wir erben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: BjÖrn Bicker
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Frieden zu dienen. Ich will Frieden.
    Ich stelle mir vor, wie ein älterer Offizier ihn ein paar Tage zuvor in seine Stube bestellt hatte. Wie er ihn angeschrien hat. Leutnant, wir brauchen Pfeifen! Wahrscheinlich verstand der Vater erst nicht, was er von ihm wollte. Trillerpfeifen, wenn Sie wissen, was ich meine. Trillerpfeifen. Der Vater musste sich das Lachen verkneifen. Der Major knallte dem Vater ein paar Zeichnungen auf den Tisch. Schauen Sie sich das an. Das sind die Vorschläge des Ministeriums, wie in Zukunft die Trillerpfeifen der deutschen Streitkräfte auszusehen haben. Das ist alles Schwachsinn. Wenn wir darauf warten, steht der Russe schon am Rhein, bevor wir den ersten Pfiff getan haben. Ich brauche
jetzt
Trillerpfeifen,
jetzt
, schrie er. Haben Sie verstanden. Jawohl, Herr Major, schrie der Vater zurück, Trillerpfeifen. Ich kümmere mich darum. Der Vater hatte plötzlich eine Idee, wie er dem Major seine Pfeifen besorgen wollte. Nach dem Appell würde er sich sofort aufmachen, alle Sportverbände der Region aufzusuchen, Fußball, Schwimmen, Turnen, alles, und dort würde er nach Trillerpfeifen fragen, er würde die Bestände der Trainer und Schiedsrichter plündern und mit diesen Pfeifen würde er den Major beglücken. Und die Ausbilder des Heeres könnten ihre Untergebenen über Wiesen und Plätze, über Zäune und durch Hecken jagen, ohne sich bei jederÜbung die Stimme zu ruinieren. Ich nehme an, der Vater war beseelt von seiner Idee und er freute sich, eine Aufgabe zu haben. Als der Appell vorüber war, machte er sich gemeinsam mit einem Kameraden auf den Weg. Mit Verhandlungsgeschick (Medizinbälle als Tauschobjekte) und Überzeugungskraft (Die Abwehr des Bolschewismus, Die Bewahrung des Friedens in Wohlstand und Freiheit) entlockten sie den Sportlern der Umgebung über dreißig Trillerpfeifen und brachten sie dem Major in die Kaserne. Vorher jedoch gingen sie in einem benachbarten Dorf in eine Kneipe und tranken auf ihren Erfolg. Am Abend lag der Vater auf seiner Pritsche, rauchte eine Zigarette und genoss den Erfolg. Der Alkohol entspannte ihn. Er wünsch te sich, einzuschlafen, um den Rückzug des sanften Rausches nicht miterleben zu müssen. Die Phase des Nüchtern-Werdens muss unerträglich für ihn gewesen sein. Sie war begleitet von schlechter Laune und Selbstvorwürfen. Die Sorgen, die ihn in nüchternem Zustand quälten, kehrten erbarmungslos zurück und belagerten sein Bewusstsein noch hartnäckiger als zuvor. Es gab definitiv nur zwei Auswege aus dieser Phase: Schlafen oder weiter Trinken. Plötzlich trat der diensthabende Offizier in die Stube. Der Vater schwang sich mit den Füßen voraus auf das Linoleum und salutierte. Telefon für Sie, sagte der Vorgesetzte. Die Familie. Sonst war er es, der zu fest verabredeten Zeiten die Mutter anrief. Es war nicht üblich, dass man Anrufe von der Familie zu den Soldaten durchstellte. Er zwängte sich in sein Affenjäckchen und ginghastig den langen Flur entlang zu dem Zimmer der Fernmelder. Die Mutter war dran. Unsere Tochter, sagte sie, unsere Tochter ist im Krankenhaus. Das Fieber wurde immer höher und höher. Sie hat sich nicht mehr bewegt. Sie lebt, aber sie sagen, dass sie sehr krank ist. Hirnhautentzündung. Was soll ich tun, fragte der Vater. Nichts, sagte die Mutter, du kannst nichts tun.
    Hirnhautentzündung. Er hatte keine Ahnung, was das zu bedeuten hatte. Er rief die Mutter ein paar Tage später wieder an. Die Nachrichten wurden nicht besser. Als er dann, nach zwei Wochen Dienst, zu Frau und Kind fahren durfte, war es schon absehbar. Eine rasante Infektion hatte das Gehirn der kleinen Tochter befallen und zu Lähmungserscheinungen in den Beinen und zu einer rätselhaften Apathie geführt. Einige Monate später war das ganze Ausmaß der Infektion sichtbar. Sie kann seitdem ihre Beine nicht mehr bewegen, und ihr Sprachzentrum ist außer Gefecht gesetzt.
    Die Mutter schob das Kind in seinem Sportwagen durch die Straßen und wünschte sich, zu sterben.
    Die Trillerpfeifen sollten nicht seine letzte Großtat gewesen sein. Er wurde Hauptmann, schließlich Major. Sie beorderten ihn nach Bonn ins Ministerium. Dort war er für die Koordination von Nachschub an der potentiellen Front zum Osten zuständig. Ausgerechnet er, der Flüchtling, der unfreiwillige Soldat, sollte sicherstellen, dass die Bevölkerung im Ernstfall genügend Nahrung, Heizstoffe und Medizin hatte. Der Heimatlose war zuständig für dieVersorgung der Heimatfront. Sie

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