Was wir erben (German Edition)
gerahmt war, die schmalen, gespreizten Finger, die den Umhang hielten, machten mir Angst. Manchmal träumte ich sogar von diesen Händen.
Deine Mutter mit ihrem lebendigen, sonnengebräunten Gesicht sieht anders aus. Keine Uta. Sie strahlt. Wahrscheinlich hat sie sich auf den Endlauf über 200 Meter Freistil der Herren gefreut. Vielleicht dachte sie an Mark Spitz.
Ich hetze vom Theater zum Schreibtisch und wieder zum Theater und wieder zum Schreibtisch. Ich werde nicht mit Holger in Urlaub fahren. Ich muss zur Mutter und dann nach Naumburg. Ich habe keine Lust mehr, länger im Trüben zu fischen.
Vorher muss ich noch zehn Tage proben. Ich arbeite gerade mit einer jungen Regisseurin an einem Stück, das heißt
Yvonne, die Burgunderprinzessin.
Der Text ist von einem Polen. Witold Gombrowicz. Ein gelangweilter Prinz will aus Lust an der Provokation eine hässliche und verstörende Frau heiraten. Der Hof ist not amused, aber es wird so getan, als wäre alles in Ordnung. Yvonne sagt kein Wort. Das ganze Stück über. Alle projizieren unentwegt ihre dunkelsten Seiten in sie hinein. Irgendwann wollen sie sie töten. Wenn man das Stück liest, weiß man nicht, ob Yvonne wirklich hässlich, fett, stinkend und unsympathisch ist, oder ob das alles nur die Ängste derLeute sind, die sie in Yvonne verkörpert sehen. Die Mutter des Prinzen, die sich plötzlich ertappt fühlt, weil sie schlüpfrige Gedichte schreibt, will sie als Erste loswerden. Liquidieren und wegschaffen. Dem Vater des Prinzen geht es genauso. Selbst der Prinz verliert die Lust an seinem Geschöpf, das ihn allein durch seine Gegenwart in den Wahnsinn zu treiben droht. Sie wollen die Sache auf aristokratische Weise lösen. Der Hofmarschall schlägt vor, sie bei einem Fischessen an einer Gräte ersticken zu lassen.
Die Regisseurin Nele und ich sind in den Köpfen der Theaterleitung als schwieriges, aber ungemein produktives Paar abgespeichert. Wir haben zwei Arbeiten miteinander gemacht und hatten Erfolg bei der Presse und beim Publikum. Eigentlich habe ich mich in der Zusammenarbeit nicht besonders wohl gefühlt, aber ich hatte keine Lust, mich gegen den Erfolg aufzulehnen.
Ich war zu sehr mit dem Kinderkriegen beschäftigt. Ich berechnete unentwegt meinen Eisprung und dachte mir mit jedem Zyklus neue Verführungstechniken aus, um den Fortpflanzungsakt mit Holger nicht allzu banal werden zu lassen. Im Park. In der Umkleidekabine des Olympiabads. Im Keller unseres Hauses. Irgendwann haben wir es sogar auf der Patiententoilette eines befreundeten Urologen getrieben. Ich war besessen von diesem Kinderwunsch. Ich habe sogar angefangen, über künstliche Befruchtung nachzudenken.
Nele gilt als radikales, kompromissloses Nachwuchstalent.Sie geht immer nach demselben Rezept vor. Sie bringt ihre CD-Sammlung von zu Hause mit, lässt sich von ihrem Bühnenbildner einen discoähnlichen Raum bauen, die Kostümbildnerin entwirft ein paar poppige Fummel, und dann trinkt sie während der Proben eine Flasche Champagner nach der anderen. Die Schauspieler sprechen ihre Texte frontal zum Publikum und suhlen sich ansonsten gelangweilt oder panisch, meistens im Wechsel, auf der glitzernden Bühne herum. Diese Mischung aus Ideen- und Maßlosigkeit führt wie zufällig zu einem Zustand, der sich scheinbar als Metapher unserer globalisierten, kapitalistischen Gesellschaft lesen lässt. Die sich für fortschrittlich haltenden Theaterkritiker und Teile des Publikums haben dabei das Gefühl, ganz am Puls der Zeit zu sein. Das hat zwar eher etwas mit ihrer eigenen, bildungsbürgerlichen Vergreisung zu tun, aber Nele schafft es, eine Illusion von Hippness zu vermitteln, die den Bewohnern des Geriatrie-Zentrums Stadttheater das Gefühl vermittelt, tatsächlich am Leben zu sein. Seit dem Fensterbretterlebnis mit Thomas bin ich genau die richtige Schauspielerin für solche Arbeiten. Ich gehe ins Extrem. Körperlich. Sprachlich. Ich bin für alles zu haben. Mir macht es nichts aus, nackt auf der Bühne zu sein. Ich brülle gerne rum. Ich lasse mich bereitwillig mit unterschiedlichsten Flüssigkeiten übergießen. Ich improvisiere, was das Zeug hält. Ich scheue kein Extrem. Ich gelte als furchtlos und angenehm. Unter
angenehm
verstehen die Leute, dass ich nicht ständig Erklärungen und Begründungenfür mein Tun verlange. Die Schlüssigkeit meiner Handlungen auf der Bühne ist mir egal. Mir ist auch egal, ob das Ganze irgendetwas mit dem Stück zu tun hat, das wir spielen. Darum sollen
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