Was wir erben (German Edition)
sich andere kümmern. Dramaturgen, Regisseure. Die ersten Tage haben wir den Text gelesen, Ideen gesammelt, Filme angeschaut. Der Bühnenbildner hat sein Modell präsentiert, die Kostüme wurden besprochen. Yvonne sagt in dem ganzen Stück kein einziges Wort. Das ist meine Rolle. Nele fing immer wieder vom verstörenden Potential der Figur an. Von ihrer irritierenden Weiblichkeit, davon, dass sie mit ihrem Körper die ganze Gesellschaft in Unruhe versetze und sie so weit treibe, dass sie ihre Fratze entblöße. Yvonne sei in ihren Augen eine Terroristin, die das erreiche, was die RAF in den Siebzigern erreichen wollte. Sie entlarve die Gesellschaft als frauenfeindlich, rassistisch und gewalttätig. Ihre Waffen seien die Verweigerung der Sprache der Herrschenden und der ungezügelte, verstörende Umgang mit ihrem weiblichen Körper. Mir fiel zum ersten Mal auf, dass die Assistentinnen und Assistenten um sie rum die ganze Zeit bewundernd und wissend lächelten. Sie nickten im Rudel und gefielen sich dabei.
Später hat Nele sie rausgeschickt. Ich sollte im Rahmen einer
geschützten
Improvisation ein Gefühl dafür bekommen, das Opfer zu sein. Die Kollegen sollten mich beschimpfen, bespucken, mich mit Essen beschmieren, mich in ein Verließ stecken, mich ausziehen, mich foltern. In ihren Gesichtern war nichts als Angst. Nele hat dieÜbung nach einer halben Stunde abgebrochen. Es sei zu hart für sie. Was sie da gesehen habe, komme der Wirkung, die sie später auf der Bühne erzielen möchte, schon sehr, sehr nahe. Auf die Frage, ob sie diese Wirkung denn beschreiben könne, fing sie an,
Yvonne
mit Künstlerinnen zu vergleichen, die die männliche Gesellschaft verstörten. Sie sprach von Marina Abramovic, von Tracy Emin, wobei sie das n und das m im Namen verwechselte und den Namen unentwegt falsch aussprach. Tracy Enim. Die, die Tracy Emin kannten, taten so, als wäre nichts. Nele sprach von Selbstverletzung, von Vergewaltigung, von zerstörerischer Liebe, von der Grenze zwischen Leben und Kunst, von der Notwendigkeit, diese Grenze zu überschreiten. Sie redete und redete und irgendwann habe ich abgeschaltet und an Dich gedacht, an unser Treffen, an den Vater. Ich wurde ungeduldig. Am liebsten wäre ich sofort aufgesprungen und zum Bahnhof gerannt und losgefahren, um mehr herauszufinden über den Vater und Deine Mutter. Ich habe mich gefragt, warum ich da saß, auf dieser Probebühne mit diesen Menschen um mich rum. Nele hatte mindestens schon anderthalb Flaschen Champagner intus. Ihre Assistentin, die einzige, die bleiben durfte, musste ihr das Zeug immer draußen vor der Probebühne in eine Kaffeetasse füllen. Ein lächerliches Ritual. Alle wussten, dass sie während der Arbeit trinkt, aber scheinbar brauchte sie dieses Versteckspiel. Aus heiterem Himmel bat Nele die anderen Kollegen, nach Hause zu gehen. Kinder, sagte sie verunglückt jovial, ihr habt Feierabend.Sie müsse unbedingt noch mit
ihrer
Yvonne für eine Stunde alleine proben. Sie sprach mich nur noch als
ihre
Yvonne an, genauso wie sie immer von
ihren
Schauspielern redete. Wie froh sie sei, dass ich diese Rolle spiele, dass die ersten Proben ihr schon gezeigt hätten, wie goldrichtig die Entscheidung gewesen sei, die Rolle mit mir zu besetzen, obwohl ich eigentlich schon zu alt sei, aber das sei ihr sowieso egal, zumal die Kombination aus meiner weiblichen Erfahrung und meinem jugendlichen, trainierten Körper eine
irre Irritation
verursache. Die gesamte Inszenierung könne dadurch genau die Höhe erreichen, die sie sich immer gewünscht habe. Nicht so platt und eins zu eins
,
sagte sie
.
Ich will, dass wir richtig verstören, rief sie so laut, als müsste sie einer ganzen Fußballmannschaft einheizen. Sie boxte mit den Fäusten in die Luft. Ich will, dass die Leute im Parkett die Flucht ergreifen. Sie sollen es nicht aushalten. Was sollen sie nicht aushalten, fragte ich. Die Verstörung, die von dir ausgeht, soll so umfassend sein, dass sie dich von der Bühne treiben wollen. Aus Ekel. Aus Scham. Weil sie sich vor sich selbst fürchten! Sie sah mich mit ihren glasigen Augen an. Wir können offen reden, sagte sie, wir kennen uns. Sie tat verschwörerisch. Du musst nackt sein, die ganze Zeit nackt. Wir müssen mit deiner Nacktheit ganz weit gehen! Bis ins Pornografische! Deshalb habe ich alle nach Hause geschickt, sagte sie. Das wollte ich erst mit dir alleine besprechen. Und ich, ganz ernst: Okay, kein Problem. Ich setz mich vorne an die Rampe, spreiz die
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