Was wir erben (German Edition)
hatten sie ihn zum Oberleutnant gemacht. Am Anfang herrschte das totale Chaos. Es gab nicht genügend Uniformen, kaum Geschirr in den Kasernen. Monatelang wurde in den Zeitungen und im Parlament über die Wiederbewaffnung gestritten. Da stand der Vater am 20. Januar 1956 in klirrender Kälte auf dem Kasernenhof des neu eingerichteten Heeresstandorts Andernach in der Eifel. Er trug eine dieser behelfsmäßigen Uniformjacken, die an den Hüften eng geschnitten waren und die Schultern betonten. Die Arme hingen an den jungen Männern herunter wie an afrikanischen Gibbons. Deshalb nannten sie diese grauen Teile Affenjäckchen. Die weiten Hosen darunter sahen aus wie Ballons. Der Vater stand also frierend in seinem Affenjäckchen mit ein paar hundert anderen Soldaten auf dem Kasernenhof und wartete auf den Besuch des Bundeskanzlers. Adenauer hatte sich angemeldet, die ersten Tapferen der neuen Armee zu begrüßen. Er ließ auf sich warten.
Einen Tag zuvor waren die ersten Kampfgeräte eingetroffen. Ein Geschenk der amerikanischen Streitkräfte. Vierzehn Kampfpanzer M 47 : der sogenannte Patton 1, der nach General George S. Patton, dem Kommandeur Eurer 3. Armee im Zweiten Weltkrieg benannt worden war.Jetzt, dachte der Vater wahrscheinlich, jetzt können wir uns Armee nennen, jetzt haben wir Panzer, auf denen wir üben können. Dann tönte endlich der Schrei des Kommandeurs über den Platz, auf dem die Soldaten in Reih und Glied warteten. Still-Gestanden. Augen Gerade-Aus. Ein Tross von etwa fünfzig Mann, zivil und uniformiert, ausländische Gesandte, Ministeriumsbeamte, bewegte sich an der kleinen Kompanie vorbei, die vor der grauen Reithalle angetreten war. In einiger Entfernung war ein Rednerpult aufgebaut, um das sich die dick verpackten Herren versammelten. Nachdem der Oberst ein Grußwort gesprochen hatte, trat Adenauer nach vorne und hielt seine Ansprache.
Die spätere Bundeswehr hieß noch
Neue Wehrmacht
. Die Diskussionen darüber, ob man überhaupt Militär brauche nach diesem Krieg, und wenn ja, wie diese Armee heißen sollte, war in vollem Gange. Viele träumten von der Entmilitarisierung. Trotzdem gab es diesen Tag der deutschen Streitkräfte. Die Kinder hatten schulfrei.
Der Vater stand in der zweiten Reihe. Ich stelle mir vor, dass ihm nicht wohl war. Er wollte kein Soldat sein. Dass er da stand, war der reine Pragmatismus. Er war für den Frieden. Er war für die Demokratie. Ich bin Staatsbürger in Uniform, sagte er sich vielleicht, ich bin Soldat, weil ich auf diesem Weg meine Frau und mein Kind ernähren kann. Er schloss die Augen, das würde niemand bemerken, beruhigte er sich, denn alle starrten auf den alten Mann da vorne. Er dachte vermutlich an die Mutter undseine kleine Tochter, er dachte an Naumburg, und vielleicht fragte er sich, warum er seine Freundin dort alleine zurückgelassen hatte. Und er dachte an die Diskussionen, die er jeden Tag mit seinen Kameraden führte. Wie er ihnen von den Russen erzählte, von der Partei, die sich alles unter den Nagel gerissen hatte, von der Einschüchterung durch die Geheimpolizei, die sich überall breitgemacht hatte. Er dachte vielleicht daran, auf wen die Rohre der neuen Panzer gerichtet waren. Er wäre so gerne aus voller Überzeugung Soldat geworden, aus dem starken Willen, alles dafür zu tun, dass er und seine Landsleute in einem demokratischen und friedlichen Land leben konnten. Er musste in diesem Moment geahnt haben, dass er dieses Mädchen nie wiedersehen würde, weil zwischen ihnen diese Grenze war. Seine Flucht. Sein neuer Beruf. Sie war jetzt seine Feindin. Ich stelle mir vor, wie das Gemisch aus Sehnsucht und Angst, aus Verlangen und Trauer, wie dieser heiße Sud seinen Körper durchströmte, sodass er trotz der Minusgrade zu schwitzen anfing. Was blieb ihm anderes übrig, als dazustehen und den Soldaten dieses neuen, unbekannten Landes zu geben und diesem alten, Angst einflößenden Politiker an seiner Spitze, der frierend und schlecht gelaunt vor ihm stand und seine Rede ablas, zuzuhören. Soldaten der neuen Streitkräfte, rief Adenauer, das deutsche Volk erwartet von Ihnen, dass Sie in treuer Pflichterfüllung Ihre ganze Kraft einsetzen für das über allem stehende Ziel, in Gemeinschaft mit unseren Verbündeten den Frieden zu sichern. Bewahren Sie sich einfrisches Herz und einen freien Sinn! Ich wünsche Ihnen, dass Ihr Dienst Ihnen Freude und innere Befriedigung geben möge. Und der Vater dachte, jawohl, das ist es, ich bin Soldat, um dem
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