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Was wir erben (German Edition)

Was wir erben (German Edition)

Titel: Was wir erben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: BjÖrn Bicker
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spielten im Ministerium alle Situationen durch. Vom Bodenkrieg bis zum atomaren Erstschlag. Der Vater verschwand wochenlang in Bunkern, um den Ernstfall zu simulieren. Er musste mehrfach miterleben, wie die Stadt, in der er aufgewachsen war, von der Karte ausradiert wurde. Aus dem Ministerium wurde er wieder abgezogen. Sie hatten sein rhetorisches Talent und sein Interesse für die politischen Zusammenhänge erkannt, sie beorderten ihn nach Koblenz zur Bundeswehrakademie für Innere Führung, die alle angehenden Offiziere zu durchlaufen hatten. Der ehemals Zuständige für Agitation, Propaganda und Kultur der FDJ und Mitglied der Jungen Gemeinde in Naumburg organisierte, neben seiner Ausbildertätigkeit, Diskussionen unter den Soldaten. Vietnam-Krieg. APO. Aufrüstung. Er bezog Stellung für den Frieden und für Verständigung, er war Sozialdemokrat geworden, er verehrte Willy Brandt, er fühlte sich als echter Staatsbürger in seiner Uniform, die mittlerweile einen besseren Schnitt hatte und silbern glänzte. Am Abend saß er wahrscheinlich mit den Soldaten zusammen, die kaum jünger waren als er, und erzählte Geschichten von den Russen, von seiner Flucht. Er prahlte damit, dass sie ihn ausgewählt hatten, dem amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy bei seiner Ankunft auf dem Flughafen in Köln mit der Flak Salut zu schießen. Er trank Bier und schwärmte von JFK und seinen Ideen. Vielleicht vergaß er die Mutter und die kranke Tochter und den Sohn, die zu Hause in der kleinen Bundeswehrwohnung auf ihn warteten. Das Jahr unserer Zeugung: 72.
    Ich betrachte das Foto. Auf dem Bild sieht er noch gesund aus. Später hat er eine Säufernase bekommen, dicke Backen. Der Sporthasser bei den Olympischen Spielen. Deine Mutter die Schwimmerin. Hat er an Deine Mutter gedacht, wenn ihm der Chlorgeruch aus meiner Schwimmtasche in die Nase gestiegen ist? Habe ich gespürt, dass ihm dabei warm wurde, dass es ihm einen Atemzug lang gut ging? War ich deshalb ehrgeizig im Becken? Hat er sich ein letztes Mal mit Deiner Mutter getroffen, um ihr zu sagen, pass auf, das mit uns, das wird nichts, ich muss für meine Familie, meine Frau, meinen Sohn, meine Tochter da sein? Hat er ihr im Getümmel der Spiele den Laufpass gegeben? Wusste der Vater, dass Deine Mutter mit Dir im Bauch nach Amerika aufbrechen würde? Hat sie dem Vater von der Schwangerschaft erzählt?
    Einmal habe ich die Mutter gefragt, wie es mit dem Vater in der Zeit gewesen sei, als ich auf die Welt kam. Er tauchte kaum noch zu Hause auf, sagte sie. Meistens kam er erst spät in der Nacht. Betrunken. Und dann: Wenn ich nicht gewesen wäre, hätte sie sich das Leben genommen. Die Arbeit mit der Schwester, die Trinkerei. Die Angst. Das fehlende Geld. Von Sven kein Wort.
    Er gab Geld aus, wie er wollte, klagte die Mutter, er lud in der Kneipe alle ein. Er kaufte wahllos Bücher, spendete für wohltätige Zwecke, ohne darauf zu achten, ob er das Geld überhaupt hatte. Kredite.
    Aus dem Repertoire seiner Lieblingssätze: Über Geld redet man nicht, das hat man.
    Wenn die Mutter mit ihm über die Lage sprechen wollte, schrie er sie an. Einem nackten Mann könne man nicht in die Taschen greifen.
    Er war wütend, sagte die Mutter.
    Wütend.

Du hast wirklich alles durchsucht. Als hätte ich es beschworen. Und was Du gefunden hast, ist exakt das gleiche Motiv, das jahrelang in einem braunen Holzrahmen bei uns im Wohnzimmer hing. Uta von Naumburg. Auf der Karte stand nichts drauf? Woher hat sie das Bild? Wenn die Karte aus DDR-Produktion ist, wie Du schreibst, dann kann sie sie nicht vom Vater haben. Er hatte Naumburg nach seiner Flucht nie mehr besucht. Als sie ihn zum Hauptmann befördert hatten, durfte er sowieso nicht mehr ins sozialistische Ausland reisen. Was hat Deine Mutter mit dieser Stadt zu tun?
    Die Schwester sollte Uta heißen, aber der Mutter hat der Name nicht gefallen. Sie einigten sich auf Ute.
    An der Wand in unserem Wohnzimmer hing das Bild der in Sandstein gehauenen Uta. Sie starrte an einem vorbei, arrogant, entrückt. Manchmal stand der Vater abwesend davor. Einmal habe ich ihn aus Versehen von hinten angestoßen. Er zeigte auf das Bild und sagte: Das ist Uta. Die schönste Frau, die es je gab. Und dann erzählte er mir vom Dom in seiner Heimatstadt, von Ekkehard, Utas Mann. Dass es der Schwester bald besser gehen würde. Ich begriff den Zusammenhang nicht. Was sollte dieseFrau mit meiner Schwester zu tun haben? Ihr Gesicht, das von einem steinernen Kopftuch

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