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Was wir erben (German Edition)

Was wir erben (German Edition)

Titel: Was wir erben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: BjÖrn Bicker
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herum. Er kann seine Angst nicht verbergen.
    Die Mutter hat sich hinter einem Vorhang versteckt und starrt gebannt durch eines der riesigen Fenster. Sie beobachtet die Entstehung genau dieser Szene. Ein paar hektische Assistenten und der schreiende Aufnahmeleiter rennen über den Platz und geben den unzähligen Statisten, die das Volk darstellen, die letzten Anweisungen. Die Militärkapelle wartet auf den Startschuss und die Pferdepfleger stehen mit ihren Gerten und Peitschen und ihren Wagen mit Heu und Möhren und Äpfeln an der Seite und dann plötzlich erschallt die Flüstertüte. Ruhe bitte, bitte Ruhe, alle auf ihre Plätze. Klappe. Die Mutter vergisst, dass sie längst wieder in ihrem Büro erwartet wird. Sie kann von ihrem Platz aus den ganzen Hof überblicken. Sie sieht, wie unter ihrem Fenster der Schauspieler Dieter Borsche mit dem Pferd kämpft, wie der Schauspieler immer zappeliger wird, wie er die Pferdepfleger anschreit, sie sollen endlich ihre Arbeit verrichten und den Klepper beruhigen, sie sieht, wie er Mühe hat, den linken Arm unbewegt am Körper zu halten (die Königliche Hoheit hat vonGeburt an einen gelähmten linken Arm), und wie er anfängt zu schwitzen und sich der Start der Aufnahmen immer weiter verzögert und die Maske angerannt kommt und auf einen Schemel steigt, um dem Star den Schweiß vom gepuderten Gesicht zu tupfen, ihn zum wiederholten Male neu herzurichten. Sie sieht, wie die Pferdepfleger verärgert tuscheln. Wie sie trotzdem immer wieder versuchen, die Tiere zu beruhigen. Die Maskenleute verschwinden wieder. Stille. Die Mutter hört ihr Herz klopfen und erschrickt. Wo ist Ruth Leuwerik, denkt sie und stellt sich auf die Zehenspitzen, um noch den letzten Winkel des Platzes in den Blick zu bekommen. Sie hält sich an dem schweren Vorhang fest, steht da auf einem Bein, leicht in der Schräge. Die drei Pferde reiten los. Borsche in der Mitte mit seinem Schimmel, rechts und links von ihm zwei braune Tiere. Alles geht gut bis dahin, die Pferde schreiten gleichmäßig und ruhig, bis sie zu dem Tor kommen, vor dem die Musikkapelle stupide im Kreis marschiert und Militärmusik spielt. Das Volk wartet auf den Regenten und das Zeichen des Regieassistenten, endlich loszujubeln. Das Borsche-Pferd wird unruhig, es schüttelt bedrohlich den riesigen Kopf. Es bockt. Es stellt sich auf. Borsche muss den linken Arm zu Hilfe nehmen. Die Aufnahme ist hin. Das Pferd rennt los und keiner der Tierpfleger bewegt sich. Sie stehen unter dem Fenster und die Mutter kann sehen, wie sie schadenfroh die Hände vor den Körpern verschränken, und dann sieht sie, wie einer aus der Schar der Statisten seinen Platz aufgibt und auf dasPferd zustürmt, auf das weiße Tier mit diesem geschminkten, uniformierten Schauspieler obendrauf. Dem Unbekannten weht der Hut vom Kopf, er hängt sich an den Hals des Pferdes und kriegt die Zügel zu fassen, und er beruhigt das Pferd tatsächlich mit ein paar geschickten Bewegungen und steckt dem Tier etwas ins Maul, das ihm offensichtlich zu schmecken scheint. Der junge Mann in diesem altmodischen Gehrock, der stolz dasteht mit dem Pferd am Zügel, auf dem zitternd Dieter Borsche sitzt, der sich sofort vom Pferd herunterhelfen lässt und wütend davon rennt, ohne dem jungen Mann, der der Vater war, einen Blick zu gönnen. Die Mutter verlässt das Versteck und rennt durch die Gänge des Schlosses zurück in ihr Büro. Der Büroleiter schimpft mit ihr und streicht ihr die nächste Pause, weil sie zu lange weggeblieben ist. Sie freut sich auf den Abend.
    Es gibt angeblich eine Szene, in der der Vater als Spaziergänger durchs Bild läuft. Es kann eigentlich nur ab Minute 27:24 sein. Im Vordergrund fährt Borsche mit seinem Diener in der Kutsche durch den Park. Die beiden Statisten im Hintergrund laufen zu spät los. Einer von beiden könnte der Vater sein. Vielleicht der vordere, der, der den Hut lüftet.
    Am Abend auf dem Gartenfest erzählen sie von ihren Erlebnissen mit Dieter Borsche. Der Vater trinkt Wein und erzählt der Mutter von seiner Flucht und von Ursula und der Fabrik und den Nächten während des Krieges und vom Pfarrer und der Gemeinde und seinem Aufenthalt imGefängnis und seinem halbnackten Marsch durch Naumburg und von seinen Geschwistern und der Mutter und dem Vater und beim Reden entsteht das Bild einer herrschaftlichen Familie, die die Wirren des politischen Lebens auseinandergerissen hat, und der Vater schaut in die Zukunft und träumt von der Heimkehr und einer

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