Was wir erben (German Edition)
neuen Familie und die Mutter versinkt in seinen Geschichten. Der Vater sagt: Du bist viel schöner als Ruth Leuwerik. Und du, antwortet die Mutter, hast Dieter Borsche das Leben gerettet. Sie lachen und schleichen sich in einen benachbarten Garten der Kolonie. Sie setzen sich auf eine Bank im Dunkeln und schauen in den schwarzen Himmel. Die Mutter wischt dem Vater die Tränen aus dem Gesicht und küsst ihn. Der Vater ist betrunken und fühlt sich frei.
Die Mutter musste sich auf der Zugtoilette übergeben. Sie hockte auf ihren geschwollenen Knien vor der stinkenden Kloschüssel und würgte den letzten Rest Magensaft aus sich heraus. Ihr tat alles weh. Der Rücken. Die Beine. Der Kopf. Sie lief durch Frankfurt und stand eine halbe Stunde später vor dem Verbindungshaus, in dem der Vater wohnte. Sie klingelte an der riesigen, hölzernen Tür. Schnieder öffnete ihr und brachte sie die Treppe hoch. Er blieb mit ihr vor dem Zimmer des Vaters stehen. Überleg dir gut, ob du da jetzt reingehen willst, warnte er die Mutter. Schnieder sank theatral auf die Knie, so hat es die Mutter jedenfalls später erzählt, nahm die Hand der Mutter und wiederholte seinen Liebesschwur zum x-ten Mal. Schniederhatte sich nämlich unsterblich in die Mutter verliebt und wurde nicht müde, ihr einen Antrag nach dem anderen zu machen. Und die Mutter, das hat sie später behauptet, war kurz davor, Schnieder nachzugeben und sich in seine linkischen, aber wohlhabenden Arme zu schmiegen, doch dann stand sie plötzlich vor dieser Tür. Sie vergaß Schnieder und riss die Tür auf. Der Vater lag halb angezogen im Bett und schlief. In dem Zimmer stank es nach Alkohol.
Die Mutter setzte sich auf die Bettkante und schüttelte ihn. Sie erzählte ihm, was los war. Dass sie schon versucht habe, es wegzumachen. Sie sei vom Schrank gesprungen, sie habe Stricknadeln benutzt, Salzlösung, sogar Putzmittel, alles Mögliche, es gehe nicht weg. Sie zeigte ihm ihre Beine, die blau und grün waren von den Stürzen. Sie habe die Schnauze voll, das Kind komme auf die Welt und er sei der Vater.
Der Vater zögerte keine Sekunde, er stand auf, küsste die Mutter auf die Stirn und gratulierte ihr. Schnieder saß heulend im Türrahmen.
Der Vater hielt später um die Hand der Schwangeren an und auf die Frage des zukünftigen Schwiegervaters, eines kriegsversehrten Malermeisters, wie er denn gedenke, die junge Familie zu ernähren, er der Flüchtling, er der Student auf großem Fuße, er der Sohn ohne Eltern, der Fabrikant ohne Fabrik, der König ohne Land, erwiderte der Vater streng und siegessicher: Ich werde Soldat. Gerade wurde die Bundeswehr gegründet und Männer wie er warengefragt. Das Land brauchte junge, möglichst unbelastete Offiziere. Der Vater brach sein Studium ab und kurze Zeit später stand er auf einem westdeutschen Kasernenhof, um sich zur Führungskraft der Bundeswehr ausbilden zu lassen. Die Mutter hatte schon ihre erste Tochter zur Welt gebracht und der Vater besuchte sie alle vier Wochen am Wochenende, so lange, bis die ersten Jahre seiner Ausbildung vorüber waren und der Sold ausreichte, um eine kleine Wohnung an dem Standort, an dem er gerade stationiert war, zu mieten. Jede Beförderung zog einen Umzug nach sich. Die Nachricht von der Beförderung kam in der Regel so spät, dass keine Zeit war, in Ruhe eine neue Wohnung für die kleine Familie zu suchen. Er ging also vor und die Mutter blieb so lange in der vorherigen Garnisonsstadt, bis der Vater sie nachkommen ließ. Mit jeder Versetzung wurden die Phasen der Trennung länger. Die Mutter saß dann da in irgendeiner westdeutschen Kleinstadt und kannte niemanden. Ihre kleine Tochter, Deine Halbschwester Ute, war ihre einzige Ansprechpartnerin. Sie verbrachte Tag und Nacht mit dem Kind. Die Anrufe des Vaters unter der Woche wurden immer weniger. Irgendwann, nach zwei, drei Monaten kam die Nachricht, dass es eine neue Wohnung gebe. Sie organisierte eine Umzugsfirma, die alle Habseligkeiten einlud und die Mutter und die Schwester in die nächste Stadt zum Vater fuhr. Und kaum hatten sie sich eingerichtet, da kam die nächste Beförderung. Der Vater schien eine steile Karriere als Offizier zu machen. Nach sieben Jahren kam das zweiteKind, der Bruder, Sven. Es gibt Bilder aus dieser Zeit. Der Vater als schneidiger, junger Soldat, die Mutter mit Dutt und kariertem Kostüm.
Er gehörte zu den ersten tausend Freiwilligen, die den Lehrkompanien der neuen Armee beigetreten waren. In kürzester Zeit
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