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Was wir erben (German Edition)

Was wir erben (German Edition)

Titel: Was wir erben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: BjÖrn Bicker
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dem Vater nichts von den Treffen zu berichten. Daran habe sie sich gehalten. Bis zum Schluss. Einmal habe der Vater morgens von einer Dienstreise angerufen. Er könne das Hotel nicht mehr verlassen. Er werde beschattet. Sie habe geschwiegen. Irgendwann seien die Männer nicht mehr gekommen.
    Die Mutter fing im Wald an zu weinen. Einmal sollte er auf Ute aufpassen, schluchzte sie, einen Nachmittag lang, weil ich zum Arzt musste. Als ich zurückkam, war er weg. Ute saß in ihrem Zimmer und hat die Wand mit dem Inhalt eines Marmeladenglases beschmiert. Auf dem Küchentisch lag ein Zettel, hat die Mutter gesagt. Darauf stand in krakeliger Schrift:
Leider ist der Soldat ein schlechter Vater. Das Land muss verteidigt werden. Dein Mann hat seine Pflicht zu erfüllen.
Ich glaube, hat die Mutter gesagt, in der Zeit hat der Alkohol angefangen, sein Gehirn zu zerfressen. Als du auf der Welt warst, hat die Mutter gesagt, wurde es immer schlimmer. Es sah so aus, als sei ihr erst heute im Wald klar geworden, dass sie ihren Mann verraten hat.
    Ich kam mir plötzlich vor wie ein Spitzel.
    Wenn das Wörtchen wenn nicht wäre, hat der Vater oft gesagt. Sein Gefühl für Schicksal. Und für die Wörter.
    Der Vater, die Mutter und ich saßen abends vor dem Fernseher. Nachrichten. Der polnische Staatspräsident Jaruselzki auf Staatsbesuch in der DDR. Honecker und Jaruselzki tauschen auf dem Rollfeld den Bruderkuss aus. In dem Moment, da sie sich linkisch umarmen, ruft der Vater: Erich, halt die Uhr fest! Er drehte sich zu uns um und erwartete unsere Lacher.
    Ich sitze wieder im Zug. Nach Naumburg. Ich bin früher aufgebrochen, als ich geplant hatte.
    Ich habe Ute nicht besucht.
    Die Mutter ahnt nicht, dass es Dich gibt.
    Kein Wort.

Ich bin in Wien. Die Ferien sind fast vorbei. Ich wohne seit ein paar Tagen in einer kleinen Pension im abschüssigen Rücken der Mariahilfer Straße. Außer mir gibt es noch einen älteren Herrn, einen Ungarn, der hier schon seit Jahren zu leben scheint, und ein paar amerikanische Rucksacktouristen. Die Wirtin ist eine grell geschminkte Frau um die siebzig, die immerzu mit dem Staubwedel durch ihre plüschige Pension läuft und jeden Gast, dem sie begegnet, in nicht enden wollende, zuckersüße Wortschleifen einhüllt. Überall stehen golden schimmernde Sessel und kleine Sofas herum. Die Wände sind mit roter Samttapete bezogen. Heute früh musste ich mich beim Frühstück übergeben – zum Glück habe ich rechtzeitig die Toilette gefunden – und selbst der Eimer, den mir die Wirtin anschließend diskret vor meine Zimmertür gestellt hat, duftete nach kräftig parfümierter Seife.
    Niemand weiß, wo ich bin. In der Pension habe ich mich unter falschem Namen angemeldet. Die Wirtin hat das Pseudonym ein paarmal laut und vielsagend vor sich hin gesungen und dabei wissend geschmunzelt. Was für ein Name, hat sie gerufen, als hätte sie eine Ahnung von meiner Not gehabt. Jedenfalls fühlt sie sich seitdem berufen,mich mit dem wolkigen Charme ihrer auffallend vom Theater inspirierten Diskretion zu umhüllen.
    Holger wartet auf ein Lebenszeichen von mir. Am Montag gehen die Proben wieder los. Ich weiß nicht, ob ich zurückkehre. Vielleicht nehme ich in den nächsten Tagen einen Flug nach Pristina, um dort nach einem Mann zu suchen, den sie aus Deutschland in den Kosovo abgeschoben haben. Du verstehst gar nichts, ich weiß.
    Eine Kopie des Fotos von 72 habe ich auf ein Stück Pappe geklebt. Es hängt hier in dem kleinen Zimmer, direkt über dem winzigen, viel zu hohen Schreibtisch. Eigentlich kann man auf dem Foto alles sehen, denke ich, jetzt, ein paar Wochen nach Deinem Auftauchen. Ich versuche, Ordnung in die Sache zu bringen. Vorne anfangen. Eins nach dem anderen.
    Am frühen Abend kam ich in N. an. Es war sommerlich schwül. Der ICE war schon wieder verschwunden, als ich noch auf dem Gleis stand und überlegte, wo ich eigentlich hingehen sollte. Außer mir war niemand ausgestiegen. Ein Halt vorher, in Weimar, hatte sich der Zug schon merklich geleert. Vor dem Bahnhof stand ein verwaistes Taxi. Weit und breit kein Fahrer zu sehen. Ich habe versucht, einen älteren Mann, der gerade den Vorplatz fegte, nach dem Lenker des Wagens zu fragen. Der Mann hat nicht reagiert. Er hat einfach weitergefegt, ohne aufzusehen. Es war, als würde es mich nicht geben. Ich zoglangsam mit Rucksack und Rollkoffer Richtung Innenstadt. Die paar Leute, denen ich unterwegs begegnet bin, haben mich argwöhnisch gemustert. Immerhin.

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