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Was wir erben (German Edition)

Was wir erben (German Edition)

Titel: Was wir erben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: BjÖrn Bicker
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den Beinen schloss er nicht richtig ab, ebenso wenig am Busen. Ich hatte das ekelhafte Gefühl, jeder könne mir in den Schritt und auf die kaum vorhandenen Brüste schauen. Einmal teilte uns der Trainer für den bevorstehenden Wettkampf ein. Hundert Meter Brust, rief er mir zu. Ein Junge aus der Trainingsgruppe flüsterte seinem Freund, für alle gut hörbar, ins tropfende Ohr: Wo nimmt sie denn die her? Ich ging immer seltener zum Training. Der Vater sagte: Tu, was du willst. Du bist alt genug. Und ich dachte: Ich brauche einen neuen Anzug. Hätte ich das in seiner Gegenwart gesagt, er hätte gelacht. Es interessierte ihn nicht, wo sich Mark Spitz seine Badehosen besorgte. Erst Holger hat mich dazu gebracht, die Dinge in meinem Sinn zu regeln. Warum machst du es dir so schwer, hat er mich ganz am Anfang unserer Freundschaft gefragt, als ich gerade mal wieder damit beschäftigt war, eine Klage wegen wiederholtem Schwarzfahren abzuwickeln. Kauf dir doch einfach eine Monatskarte, dann musst du dir keine Sorgen mehr machen. Sein Vorschlag war spießig, entwaffnend und überraschend einfach. Zur selben Zeit stieg mir die Bank aufs Dach, weil ich meinen Dispokredit andauernd überreizt hatte. Gleich ihn aus und dann schaff ihn ab, hat mir Holger geraten und mir die Summe geliehen, die ich brauchte. Und auch das hat funktioniert. Dann hat er nicht mehr lockergelassen. Ich kaufe seitdem Kleidung, die passt, schließe Verträge ab, die sich mit meinen Bedürfnissen decken (Handy, Arbeit, Wohnung). Ich trinke nicht mehr jede angebrocheneWeinflasche sofort leer, weil ich gelernt habe, mir damit den Kater am nächsten Morgen zu ersparen. Ich reserviere Plätze im Zug. Ich kaufe Schals und Handschuhe, die warm halten. Ich lerne den Text so gut, dass ich vor Premieren nicht mehr unter Schlafstörungen und Selbstmordgedanken leiden muss. In meinen Unterlagen, die ich in Aktenordner eingeheftet habe, befinden sich diverse Versicherungen: Hausrat, Haftpflicht, Rechtsschutz. Ich besitze inzwischen sogar eine rückenschonende Matratze. (Erinnerst Du Dich noch an die Federkernmatratze in Wien?!) Ich buche Zimmer. Das habe ich alles Holgers Intervention zu verdanken. Den Wahnsinn, die Gefährdung, die Unsicherheit lebe ich nur noch auf der Probe aus. Das hat ein paar Jahre ganz gut funktioniert.
    Ich war mir sicher, dass ich in N. problemlos ein Zimmer finden würde, auch ohne Vorbestellung. In meiner Fantasie war es dort leer. Überall. Wer will da schon hin, habe ich gedacht, die Bilder in meinem Kopf stammten noch von meinem ersten Besuch.
    Neunundachtzig Anfang November. Der Vater saß am Abend fassungslos vor dem Fernseher. Tränen vor Rührung. Tränen aus Angst. Tränen vor Freude. Die Vergangenheit schien kurz abgeschafft. Ostdeutsche Kolonnen überquerten ungehindert die Grenzen der Tschechoslowakei Richtung Westen. Die Autos fuhren aus dem Bildschirm, von links nach rechts, und ein paar Stunden später knatterte und hupte vor dem Haus ein grünerWartburg. Das Unbeschreibliche: Mehr als vierzig Jahre Verdrängungsleistung tauchten als nie gesehene Farbe im Gesicht des Vaters auf. Die Mutter, der Vater, die Tochter saßen da in ihrem Wohnzimmer, regungslos, für ein paar Sekunden, die Mutter schaute den Vater an, der Vater knipste den Fernseher aus, wie zur Verdunklung. Ansonsten keine Bewegung. Alle wussten, was los war. Es klingelte Sturm. Die Mutter sagte: Ich habe es geahnt. Vor der Tür stand sein ältester Bruder, zwei Jahre jünger als der Vater, in einem zerriebenen Ledermantel. Er zitterte vor Kälte. Hinter ihm zwei junge Männer, seine adoptierten Söhne, die Zwillinge, Hans und Franz. Sie grinsten seitlich am Bruder des Vaters vorbei. Rote Wangen. Hungrige Nasen. Im Auto, auf dem Beifahrersitz, Roswitha, die Frau des Onkels, mit verschränkten Armen, nicht bereit, auszusteigen. Starre. Dann Umarmungen in der Kälte. Dampfender Atem. Die Mutter zerrte Roswitha aus dem Wartburg. Tränen. Bei uns klingeln die Leute sonst nur in der Nacht, wenn sie ein tollwütiger Fuchs verfolgt, sagte die Mutter, um alles zu erklären. Hans und Franz machten sich gleich daran, das voll bepackte Auto in unseren Hausflur zu entladen. Teppiche, Bilder, Kleider, sogar Geschirr, alles unverpackt, hastig aus der Wohnung ins Auto gestopft und in der neuen Welt, völlig entwertet, als nutzlose Museumsstücke wieder abgeladen. Die Mutter sagte: Nächste Woche ist Sperrmüll, der Vater stöhnte und fand Gefallen an den Dingen. Er versuchte, den

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