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Was wir erben (German Edition)

Was wir erben (German Edition)

Titel: Was wir erben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: BjÖrn Bicker
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Ich war da. Das bestätigten ihre Blicke.
Wenn Fische Angst haben, legen sie größere Eier.
Dieser Satz aus dem Wissenschaftsteil der Zeitung, die ich im Zug gelesen hatte, blinkte in meinem Kopf wie eine alte, zuckende Leuchtreklame, als ich durch die Straßen ruckelte. Der Satz passte überhaupt nicht zu der Umgebung, in der ich gelandet war. Die erste halbe Stunde in der Stadt des Vaters habe ich damit verbracht, den Satz wieder zu vergessen und meine zittrigen Beine auf Kurs zu bringen. Zwischen den renovierten Immobilien immer wieder Steinkadaver. Zugenagelt oder im freien Verfall. Der kühle Verwesungsgeruch der Ruinen vermischte sich mit dem billigen Parfum des Sanierten. Ich habe geatmet. Ich habe geschaut. Ich habe den Vater als Jungen gesehen. Wie er in einem Hauseingang verschwunden ist. Alleine. Wie er sich kurz vor dem Einbiegen noch einmal hastig umgesehen hat. Die Angst vor den Verfolgern. Die Steine waren die Steine des Vaters. Die Häuser. Die Straßen. Ein paar hundert Meter weiter ist er mit einem braunhaarigen Mädchen im Schlepptau vor dem Schlecker (Drogeriemarkt) wieder aufgetaucht. Mit bitterer Miene. Hastig Richtung Moritzkirche. Das Mädchen nur widerwillig folgend, stolpernd.
    Seit ich in N. den Bahnsteig betreten hatte, ging in meinem Kopf alles durcheinander: Die Zeiten, die Orte, die Erinnerungen, die Gedanken an morgen, der Satz aus derZeitung. Ich ließ mich treiben, ohne genau zu wissen, von was. Ich würde nicht sagen, dass ich mich verlaufen habe, in so einer kleinen Stadt kann man sich nicht verlaufen. Ich war ohne Orientierung. Das Gehen fühlte sich an, als würde sich der Boden unter mir drehen. Eine neue, eine fremde Erde, auf der ich angekommen war. Ich fühlte mich leicht, beschwingt fast. Ich dachte für eine Weile nicht an Holger, nicht an die Arbeit, ich war ein Teil dieser Stadt und die Zeit schien plötzlich im selben Takt zu laufen wie meine Füße. Diese Erde drehte sich für mich. Ich hatte die Schwere meines Rucksacks vergessen. Irgendwann stand ich auf dem Marktplatz. Die restaurierten Fassaden sahen traurig aus. Auf den Stühlen vor den Cafés saßen ein paar Rentnertouristen in ihren khakifarbenen Rentnerklamotten. Ich war glücklich.
    Ein Sturm kam auf. Und es tat wieder weh. Der Rucksack auf den Schultern. Die ersten Regentropfen auf meinem Gesicht. Keine Sonne mehr. Schnelle, dunkle Wolken, die urplötzlich knapp über den Dächern dahinrasten. Papier und Dosen sind über das Pflaster gesegelt. Ich bin in eines der Lokale geflüchtet. Die Touristenrentner an mir vorbei, quer über den Platz. Eine junge Frau, Anfang zwanzig, blondiertes Haar, dunkler, ausgewachsener Ansatz, kam hinter dem Tresen hervor. Sie war aufgeregt. Kundschaft. Ich hatte noch nicht mal meine Jacke abgelegt, da hatte sie mich schon auf derart kellnerinnenhafte Art gefragt, was sie mir
Gutes
tun könne, dass ich das Lokal am liebsten gleich wieder verlassen hätte. Aber ichwollte nicht mehr raus. Es schüttete in Eimern. Wasser. Ohne Trost. Ich habe einen Kaffee bestellt. Und dann sah ich, dass am Tresen ein Mann saß und rauchte. Der einzige Gast. Außer mir. Mir fiel ein, dass ich noch keine Unterkunft hatte.
    Ich war lange nicht mehr irgendwo hingefahren, ohne vorher ein Zimmer in einem Hotel oder einer Pension gebucht zu haben. Ich hatte mir diese Art der Spontaneität längst abgewöhnt. Aus Selbstschutz. Weil das Provisorische und das Ungeplante in meiner Familie die Tendenz zur Verwahrlosung hatten. Die Bewältigung des täglichen Überlebens zog so viel Kraft ab, dass fürs Planen, fürs sich Einrichten, für die gewöhnliche Selbstfürsorge nichts übrig blieb. Keine Kraft. Kein Geld. Keine Zeit. Nichts. Das Leben war eine einzige Aneinanderreihung von Notlösungen. Die Verwahrlosung wurde einfach umgedeutet. Ins Spontane. Ins Provisorische. Ins Ungeplante. Ins Geborgte. Ich brauchte einen neuen Badeanzug fürs Schwimmtraining. Die Mutter kam mit einem viel zu großen Modell vom Sommerschlussverkauf nach Hause. Du wächst da rein, hat sie gesagt und mir den Anzug als
nicht ganz der aktuellen Mode entsprechend
, aber
schön
und
geeignet
angepriesen. Ich konnte nicht ablehnen, weil ich ja wusste, dass kein Geld da war, einen regulären Badeanzug von der richtigen Firma (Adidas) zu kaufen. Das Schwimmtraining wurde zur Qual, weil ich mich eigentlich nur im Wasser aufhalten konnte. Der Anzug klebte zwar an meiner Haut, wenn er nass war, das war auch mit Duschenzu regeln, aber zwischen

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