Was wir erben (German Edition)
hört.
Hans und Franz fingen an, Pläne zu schmieden. Wie man an Geld kommen könne. Als Hans sagte, wir suchen uns Arbeit, gleich morgen, da grinste Franz vielsagend.Ich war wie gebannt an diesem Abend, gebannt von den fremden Gesichtern, gebannt von den Geschichten, gebannt vom Ende des Stillstands. Diese völlig fremden Menschen, von denen ich bisher nur aus den Erzählungen des Vaters wusste, kamen mir unwirklich vor. Ich glaubte ihnen nicht, dass sie zur Familie gehörten. Ich hatte das Gefühl, in einem Film mitzuspielen. Das war keine Familie. Das waren Darsteller in einem Film, der sich plötzlich in unsere Wirklichkeit verwandelt hatte. Roswitha nahm mich an der Hand und zog mich zu sich hin. Sie betatschte mein Gesicht und rief dann lauthals: Ganz der Vater! Das machte mich wütend. Hans und Franz sehen euch aber gar nicht ähnlich, konterte ich, weil ich wusste, dass Hans und Franz Adoptivkinder waren, die erst im Alter von drei Jahren zum Onkel und seiner Frau Roswitha gekommen waren. Roswitha antwortete mir, indem sie lang und ausführlich die Geschichte der Adoption ausbreitete. Hans und Franz litten. Der Onkel trank weiter. Irgendwann stand Franz auf und spuckte seiner Mutter eine Ladung Korn ins Gesicht. Hans schlug seinem Zwilling mit der Faust gegen die Stirn. Franz fiel nach hinten und knallte gegen die steinerne Fensterbank. Er blutete stark. Roswitha fing an zu heulen und beteuerte von da an ohne Unterlass, dass sie es doch die ganze Zeit und in alle Zukunft immer nur gut meine. Ich sprang auf und rief die Mutter. Hilflos stand sie da und sah mich fragend an. Ins Krankenhaus, sagte ich resigniert. Und dann fuhr der Vater, der an diesem Abend, demonstrativ oder unfreiwillig, keine Ahnung,nichts getrunken hatte, mit dem grünen Wartburg des Bruders und Roswitha und Hans und dem blutenden Franz in die Notaufnahme des kleinen Krankenhauses. Franz wurde genäht und noch zwei Tage zur Beobachtung dort behalten. Die Restfamilie richtete sich bei uns ein. Der Onkel saß von früh bis spät in der Küche und trank. Roswitha unternahm Streifzüge durch die bescheidene Geschäftswelt der Kleinstadt und kam jeden Tag mit neuer, geschenkter Beute nach Hause. Die Leute waren spendabel. Sie hatten Mitleid mit den Geflüchteten, was sich allerdings schnell in offene Feindseligkeit verwandeln sollte.
Hans suchte sich eine Arbeit bei einem ortsansässigen Malerbetrieb. Als Franz aus dem Krankenhaus entlassen wurde, fing er an, sich krumme Geschäfte auszudenken. Er ließ eine Freundin aus N. kommen und versuchte, in dem kleinen, katholischen Städtchen so etwas wie einen Callgirl-Service aufzubauen. Als er damit wegen mangelnder Nachfrage und entschiedener, anonymer Proteste gescheitert war, transportierte er Autos von West nach Ost, bis bei einer zufälligen Verkehrskontrolle herauskam, dass nicht nur er keinen Führerschein hatte, sondern die Autos auch noch zweifelhafter Herkunft waren. Das Treiben beschleunigte meine Auszugsbemühungen. Ich fand später eine kleine Wohnung im Souterrain einer achtköpfigen Familie und verließ die wiedervereinigte Notgemeinschaft. Die Miete verdiente ich mir mit Nachhilfestunden für die Kinder der Familie.
Es müsse mal einer zu Hause nach dem Rechten sehen,sagte der Onkel. Er legte den klobigen Hausschlüssel auf den Küchentisch. Ich wusste erst nicht, was er meinte, aber dann ließ er auch noch seinen Autoschlüssel auf das Resopal knallen. Er wollte, dass ich nach N. fahre. Ich stimmte sofort zu. Ich überredete einen Freund, der schon seinen Führerschein hatte, mit mir die Reise anzutreten. Wir fuhren also in dem grünen, knatternden Wartburg mitten im Winter nach N. Den ganzen Weg in einer Nacht. Der Vater sagte: Good luck! Das waren die einzigen englischen Wörter, die in meiner Gegenwart je aus seinem Mund gekommen waren.
Es war kalt. Die Häuser, die Autos, die Straßen waren mit Schnee und Eis bedeckt. Das Haus stand leer. Alles sah genau so aus, wie es an dem Abend ausgesehen haben muss, als die Familie fluchtartig ihr Zuhause verlassen hatte. Erst durchstöberten wir ziellos die Räume, versuchten, die Öfen in Gang zu bringen, was uns nicht gelang, dann ging ich in den Hof, der hinter dem Haus war. In einem Schuppen waren Hasenställe untergebracht. In den Ställen lagen tote Tiere. Verhungert. Ich lief ins Haus und erzählte meinem Schulfreund von dem Fund. Er saß im Wohnzimmer der Familie auf dem Boden und blätterte in einem Fotoalbum. Psycho, sagte er,
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