Was wir erben (German Edition)
Takt durch lautes Begrüßen wiederherzustellen. Herein, herein. Die Dingeim Flur erinnerten ihn an ein Land, das er nie kennengelernt hatte, dessen Umrisse er mit dem Finger unzählige Male auf der Landkarte abgefahren ist, deren Zeichnung für ihn die Frontlinie zwischen ihm und seiner Vergangenheit gewesen war, zwischen ihm und seinen Geschwistern, die mit den Jahren alle weggestorben waren (Selbstmord, Unfall, Suff) bis auf den einen, der jetzt mit seiner Familie am Küchentisch saß. Keine Euphorie. Stattdessen Überforderung auf beiden Seiten. Zu viele Jahre. Zu viele Fragen. Alles wurde überspielt mit falscher Freude, die zerschellte. Der Onkel wirkte niedergeschlagen. Saß da mit dem Kopf in den Händen. Die Tränen liefen die eingefallenen und zerfurchten Wangen hinunter. Wer weiß, was passiert, sagte der Onkel. Hauptsache weg. Er entschuldigte sich. Wer weiß, was diese Chaoten sich noch alles ausdenken. Besser jetzt als tot. Der Vater bot den Verwandten, zum Schrecken der Mutter, mit einer vaterländischen Rede sein angemietetes Haus als
ihr eigenes an
. Die Mutter schwieg. Sie wusste, was das zu bedeuten hatte. Sie hatte die Arbeit.
Ich war zu dieser Zeit schon mit meinem Auszug beschäftigt. Also
neue Kinder
, dachte ich und war erleichtert.
Hans und Franz, ein paar Jahre älter als ich, stopften Brote in sich hinein. Ihr Münder wollten nicht sprechen. Ihre Hände waren schmutzig. Der eine, Hans, war hager und hatte ein knochiges, heimtückisches Gesicht. Der andere, Franz, war dicklich und schaute harmlos in die Welt. Später stellte sich heraus, dass die äußere Gestalt der Zwillingeüber Kreuz lag mit der Rolle, die sie spielten. Eine Art Verfremdung, die im echten Leben nicht so oft vorkommt.
Roswitha gab dem Onkel ein kariertes Stofftaschentuch für seine Tränen. Sie entschuldigte sich mit jeder Geste, mit jedem Blick für ihren Mann, für ihre Söhne, für ihre Anwesenheit. Roswitha hatte den Vater noch nie zuvor gesehen. Als der Onkel aufgehört hatte zu heulen, war Stille. Er hob den Kopf. Er forderte in unerwartetem Befehlston etwas zu trinken. Hans und Franz sprangen auf, wischten sich die gierigen Münder ab, warfen sich ihre Jacken über, an der Tür blieben sie stehen, drehten sich gleichzeitig um und wie aus einer Kehle: Wir haben gar kein Geld. Westmark, riefen sie im Chor. Der Vater zückte einen Schein und hielt ihn hin. Wie man Hunden etwas zu essen hinhält, von denen man nicht weiß, ob sie beißen. Der Vater sah ratlos aus und staunte. Die Konstanten seines Lebens, die zwei Staaten, die von der Mauer und seinem Soldat-Sein konservierte Vergangenheit, alles schien mit einem Mal hinfällig, wertlos. Es hatte ihn überrascht. Das Neue war noch nicht in seinem Schädel angekommen. Hans und Franz rissen ihm den Schein aus der Hand. Roswitha lächelte betreten in die Runde. Der Schnaps ließ auf sich warten. Eine Stunde später kamen Hans und Franz zurück. Volltrunken. Ihre überraschende Ankunft aus dem fernen Osten hatte ihnen in der nahe gelegenen Kneipe ein paar Runden auf Kosten des Hauses eingebracht. Der nationale Taumel ließ sich in Gestalt meinerCousins an unserem Küchentisch nieder. Der Onkel schraubte gierig die erste Flasche Korn auf und ließ laufen. Die Mutter verließ die Küche. Der Vater saß schon wieder im Wohnzimmer und hörte Musik. Eine Schallplatte mit Beethovens
Neunter
drehte sich eiernd auf dem uralten Plattenspieler, der sonst nur an Weihnachten zum Einsatz kam, oder, was ungefähr einmal im Monat vorkam, wenn der Vater nachts besoffen den
Radetzky-Marsch
laufen ließ. Einmal saß er davor und die Platte lief auf 45 statt auf 33, und als ich mitten in der Nacht ins Wohnzimmer kam, weil ich wegen des Lärms nicht schlafen konnte und hoffte, der Vater sei schon eingenickt und ich könne das Ding unbemerkt ausschalten, rief er mir triumphierend zu: Das ist Musik!
Roswitha sah mich entschuldigend an und wollte sich mit mir verbünden. Wir zwei Frauen. Die Männer tranken. Hans und Franz erzählten von der Reise und der Euphorie an der Grenze und von ihrem Ausflug in die Kneipe. Sie hätten in der einen Stunde schon mindestens fünf Jobangebote erhalten. Die Menschen seien alle viel freundlicher als daheim. Stimmt’s, Vater, riefen sie völlig enthemmt und schlugen dem Onkel mit voller Wucht auf den Rücken. Der Onkel fragte nach seinem Bruder. Der sitzt im Wohnzimmer, sagte ich, und hört Musik. Das ist neu, sagte der Onkel, dass dein Vater Musik
Weitere Kostenlose Bücher