Was wir erben (German Edition)
Lehrschwester anzutreten. Das habe sie ihr damals erzählt. Sie habe keine Familie gehabt, nichts. Einsam habe sie gewirkt, bemitleidenswert. Irgendwann habe eine Freundin erzählt, sie sei abgehauen, habe rübergemacht, in den Westen. Sie habe sich damals nichts dabei gedacht. (»Die Leute sind ihren Taten nicht gewachsen. Sie verkleinern alles.«) Und ihr Name, habe ich die Alte gefragt. Elisabeth.
Mein Name.
Wenn diese Frau auf dem Bild, die Hofffmann beschrieben hat, die Frau ist, an die sich Marianne Lüders erinnert, dann trage ich denselben Namen, wie ihn Deine Mutter trug, bevor sie das Land verlassen hat, das es nicht mehr gibt.
Wir gingen zurück zu der Siedlung. Ich verabschiedete mich von der Frau und blieb unten im Taxi sitzen, während Hofffmann sie zurück in ihre Wohnung begleitete. Ich schaltete das Radio ein. Es rauschte. Hinter dem Rauschen dudelte sich ab und zu eine Schlagerwolke nach vorne. Als Hofffmann eingestiegen war, drehte er kurz am Regler:
Forever Young
, Alphaville. Das ist meine Jugend, sagte ich und legte meinen Kopf auf seine Schulter. Elisabeth, zu allem Überfluss auch noch Elisabeth, scherzte Hofffmann. Ich war erschöpft und wehrlos. Ich lachte mit Hofffmann. Dein Vater, sagte Hofffmann, hat sich ein Kabinett eingerichtet.
Heute ist es laut in der Stadt. Und heiß. Aus dem Himmel über Wien leuchtet die Sonne grell in das kleine Zimmer. Ich kann nichts erkennen auf dem Bildschirm meines Laptops. Egal, wo ich den verschnörkelten Schreibtisch hinschiebe, überall blendet und reflektiert das Sonnenlicht, das sich in allen möglichen Vasen und Kristallen, die hier herumstehen, bricht. Also ziehe ich die roten Samtvorhänge vor das geöffnete Fenster. Von der Apollogasse dröhnen die anfahrenden und bremsenden Autobussenach oben. Die Birne in der alten Jugendstildeckenlampe flackert. Ich will das Zimmer nicht verlassen. Erst will ich Dir alles erzählt haben. Alles. Dann kann ich mich entscheiden, wie es weitergeht. Die Zeit wird knapp. Ich habe für Sonntag Abend einen Flug nach Pristina gebucht. Die Zugfahrkarte nach München für denselben Tag klemmt ebenfalls hinter dem Spiegel über dem Waschbecken. Ich war gestern Nachmittag bei diesem Frauenarzt. Dr. Huemer. Die Praxis, die eigentlich gar keine Praxis war, sondern eine salonhafte Privatwohnung aus dem vorletzten Jahrhundert, liegt gleich neben dem Prater. Aus dem Behandlungszimmer sieht man das Riesenrad. Mit Thomas bin ich oft in den Prater. Erst sind wir Riesenrad gefahren und dann zum Schnitzelessen. In diesem uralten Riesenrad hat mich jedesmal eine solche Panik gepackt, dass Thomas mich vorher fragte: Willst Du wirklich? Wir mussten schon lachen, als wir nur anstanden, um das Ticket zu kaufen. Ich habe die Dimension meiner Angst nach den Anfällen vergessen, nur eine vage Erinnerung blieb zurück und so bin ich immer wieder aufs Neue rein in eine der Kabinen, die fast so groß sind wie mein Zimmer in der WG damals. Am Scheitelpunkt der Rundfahrt ging es meistens los. Es hörte erst wieder auf, als ich festen Boden unter den Füßen spürte. Gestern, als ich allein in dem speckigen Vorzimmer des Arztes saß, versuchte ich, mich an die Angst zu erinnern. Vielleicht weil ich sicher war, dass es mir nicht gelingen würde. Aber plötzlich brach der Schweiß aus den Poren, mein Herz raste, überallrote Flecken auf der Haut. Da kam dieser Dr. Huemer rein. Ein kleiner, zwergenhafter Mann in einem blütenweißen Kittel, der ihm überhaupt nicht passte. Viel zu groß. Die Ärmel waren mehrmals umgeschlagen und baumelten als dicke Krempen um seine Unterarme. Der Saum schleifte beim Gehen auf dem Teppich. Er hatte eine verschmierte Brille vor der Glatze kleben. Vier Augen. Zwei auf der Stirn, zwei im Gesicht. Im Mundwinkel klemmte eine qualmende Zigarette. Er war hundert Prozent unwienerisch: Er kam sofort zur Sache. Wir wissen beide, worum es geht, sagte er. Nein. Ich nicht, habe ich ihm geantwortet. Er setzte seine Brille auf die wuchtige Nase und kam ganz nah an mich ran. Warum sind Sie dann bei mir? Eine anonyme Empfehlung, stotterte ich, damit beschäftigt, meinen Angstanfall zu unterdrücken. Er gab mir ein Glas Wasser, das ich nicht halten konnte. Ich ließ es auf den Teppich fallen. Huemer kümmerte sich nicht darum. Kommen Sie, sagte er und schob mich in sein Behandlungszimmer, das allerdings aussah wie ein botanischer Garten. Überall standen überdimensional große Grünpflanzen herum. Ich glaube, sogar
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