Was wir erben (German Edition)
aber es wird nicht enger deshalb. Die Toten sind da und gleichzeitig nicht da. Das können nur die Toten. Sie tun nicht so
als ob
. Das ist ihre Natur, ihr Wesen, sie können gar nicht anders. Ich war schon ziemlich entsichert von dem Wein. Alles sei gespielt, sagte ich, immer. Egal, ob tot oder lebendig. Alles nur gespielt. Die Frage, was echt sei, langweile mich. Im Theater. Im Leben. Überall. Ich könne eigentlich an nichts glauben,sagte ich, weil es nichts gäbe, was nicht im Verdacht stünde, ein Fake zu sein. Das sei befreiend, versuchte ich, Valon von meiner Idee zu überzeugen. Konzentriert zog er den Korken aus einer weiteren Flasche Wein und sagte mit ruhiger und klarer Stimme, dass er seit ein paar Wochen nichts mehr von seiner Familie im Kosovo gehört habe. Das sei echt. Dass die Polizei sie mitgenommen habe in der Nacht. Das sei echt. Dass sie im Kosovo neben einer Müllhalde wohnen. Das sei echt. Dass er sich verstecken und das räudige Leben eines Illegalen führen müsse. Das sei echt. Dass sie seinen Großvater vergast haben, nachdem sie seinen Kindern bei lebendigem Leib die Augen aus dem Kopf geschnitten haben, nur weil sie wissen wollten, wie lange die Augen ohne den dazugehörigen Körper noch arbeiten können. Das sei echt. Auch die Toten, die als quicklebendige Ahnen in seinem Kopf umhergeisterten. Die seien echt. Dass er bald durchdrehe, weil er nicht wisse, wie es seiner kranken Mutter gehe. Das alles sei so echt, dass er nicht mehr schlafen könne. Seit Wochen. Er laufe nachts durch die Straßen und beobachte den Himmel, weil ihn die Vorstellung, dass seine Familie unter denselben Sternen umherlaufe, dieselben Lichter sehe, tröste. Das alles sei echt. Er sagte
troste
, weil er kein
ö
aussprechen konnte. Valon tat mir leid. Dieses Mitleid machte ihn aber nicht kleiner, sondern ließ ihn leuchten. Er hielt mir sein Weinglas entgegen, um anzustoßen. Auf die Toten! Die Kerzen funkelten in seinen Augen. Valon lächelte. Mir fielen zum ersten Mal seine zarten,dunklen Hände auf. Mir hatte es die Sprache verschlagen. Als ich seinen Toast erwidern wollte, gelang mir lediglich ein verschämtes Grinsen, saublöd, mein Herz galoppierte. Pferde sind heilige Tiere, dachte ich. Hofffmann stand auf. Er hielt ein Glas Wasser in der Hand. Valon und ich starrten ihn an. Des Rätsels
Losung
, sagte er gespielt feierlich. Wir mussten lachen, weil er natürlich
Lösung
meinte, aber er imitierte Valon, der meine Hand nahm und sie aufgeregt drückte, als Zeichen für die beginnende Vorstellung, die Hofffmann gerade eingeläutet hatte. Bloder Spinner, rief Valon belustigt. Hofffmann tat so, als habe er nichts gehört. Wenn diese Frau, Deine Mutter, die Jugendliebe des Vaters gewesen sein soll und sie die Republik fluchtartig verlassen hat, wobei die genauen Umstände der Flucht noch zu ermitteln wären, dann kann es nur eine Möglichkeit geben, weiterzukommen, sagte er. Ich wusste, der Tag würde kommen, da ich meine Feinde aufsuchen muss. Der Tag ist eine Nacht. Egal. Ich verlasse euch, ich breche jetzt auf zu diesem Typen von der Firma, der hier der Chef war, der ganz N. im Griff hatte, der mich in den Knast gebracht hat, der zu mir kam, als er ganz am Boden war, und mich um Verzeihung gebeten hat. Hofffmann hielt kurz inne mit seiner Predigt, um dann umso salbungsvoller weiterzumachen: Ich habe damals aus guten Gründen ausgeschlagen und nun werde ich ihn aus besseren Gründen an seine Bitte erinnern. Er soll mir sagen, was da los war mit dieser Frau, die aussah wie Shane Gould. Hofffmann kippte das Wasser auf ex runter,schlug die Hacken zusammen und ging. Er wollte rauskriegen, was es mit der Flucht Deiner Mutter auf sich hatte. Er muss es wissen, hat er beim Verlassen der Wohnung gerufen. Er muss es wissen. So etwas kann ihm nicht entgangen sein. Nicht im kleinen N.!
Valon und ich saßen plötzlich alleine da. Die Kerzen waren schon fast runtergebrannt. Wir steckten die Köpfe zusammen. Nah bei den zuckenden Lichtern. Valon zeigte mir auf seinem Handy Fotos von seiner Familie. In ihrer Wohnung. Draußen an einem See. Valon mit seinen Schwestern. Valon erzählte mir von seinem Plan, eine Initiative gegen die Abschiebungen aus Deutschland zu gründen. Sobald er wieder Papiere habe und sich irgendwo ohne Angst niederlassen könne. Das sei das Einzige, was er wirklich tun könne. Und sowieso, die Roma bräuchten eine neue Bürgerrechtsbewegung. Schließlich seien sie die größte Minderheit in Europa. Er
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