Was wir erben (German Edition)
Vogelgezwitscher gehört zu haben, konnte in dem Urwald aber keine Vögel entdecken. Sein Schreibtisch stand versteckt hinter drei üppigen Büschen. Dahinter ein von irgendeiner Hängepflanze zugewachsener Paravent. Er behauptete, es in meinen Augen gesehen zu haben. Was?, fragte ich ihn. Den Grund, warum ich da sei. Haben Sie keine Ahnung? Doch, mir ist schlecht, ich leide seit Tagen unter Schwindelanfällen.Ich muss mich dauernd übergeben. Aber eigentlich geht es mir gut. Ich stehe vor einer wichtigen Entscheidung in meinem Leben. Vielleicht wirkt sich das negativ auf meinen Kreislauf aus. Er wiederholte das Wort
Kreislauf
. Huemer kratzte sich dabei gut hörbar am Hinterkopf, da wo er noch ein paar Haare hatte. Er nannte mich einen
besonders schweren Fall
und nahm mir Blut ab. Ich ließ es geschehen und musste trotz Angstattacke die ganze Zeit grinsen, weil ich das Gefühl hatte, Patientin eines Verrückten zu sein. Der plötzliche Aderlass beruhigte mich. Huemer verschwand in ein anderes Zimmer. Nach ein paar Minuten, in denen ich meine Atmung mit ein paar Übungen aus der Schauspielschule wieder in ihr gewohntes Gleichmaß gebrachte hatte, kam er zurück, setzte sich an seinen Schreibtisch und sah mich forschend an. Ob ich wirklich nichts wisse, fragte er mich noch mal. Ich schüttelte den Kopf. Er fragte mich, ob wir es gleich erledigen sollten oder ob ich mir noch Gedanken machen wolle oder
womöglich
erst Geld besorgen müsse. Da ist der Groschen gefallen. Zum Abschied schenkte mir Huemer einen kleinen Kaktus und sagte: Sie wissen, wo Sie mich finden.
Ich bin schwanger.
Auf dem Rückweg zur Pension habe ich mir in der Apotheke drei verschiedene Tests besorgt. Und obwohl ich Nachmittagsurin verwendet habe, gibt es keinen Zweifel: Der rosa Drilling liegt hier auf dem Schreibtisch. Als ich der Wirtin am Empfang begegnet bin, hat sie wissendgenickt. Ich habe mich bei ihr bedankt. Sie hat so getan, als wisse sie von nichts. Sie hat mich gefragt, ob ich morgen Nachmittag, am Samstag, mit ihr ins Kino gehen wolle. Ich könne ja nicht nur im Zimmer sitzen. Sie wisse zwar nicht, was ich dort tue, aber das sei nicht gesund, nicht in meinem Zustand. Sie wurde rot unter dem Puder, das ihr Gesicht bedeckte, dieses Gesicht, dessen überschminkter Ausdruck in diesem Moment mehr verriet, als ihm lieb war. Ich habe ihr Angebot angenommen. Jetzt habe ich etwas, worauf ich mich freuen kann, habe ich, ungewollt zweideutig, gestammelt.
Valon stand in der Küche und strahlte. Er freute sich, dass ich wieder da war. Er hatte eine weiße Schürze umgebunden und seine langen, schwarzen Haare unter einem bunten Kopftuch versteckt. Er dürfe alles kochen, sagte er, außer Pferd. Hofffmann gab zu bedenken, dass es nicht zu scharf sein solle, sonst könne er nicht gut nachdenken, aber gegen Gemüse und andere gesunde Zutaten habe er nichts einzuwenden. Auf die Frage, ob ich Frau Lüders’ Aussage als glaubhaft verbuchen solle, schwieg Hofffmann. Erst später beim Essen gab er mir eine Antwort. (»Man lügt mit dem Mund, nicht mit den Augen.«) Valon spielte den Gastgeber. Er hatte ein frisches Hemd an und redete ununterbrochen. Er war gut gelaunt. Ich habe nur die Hälfte mitbekommen, weil ich die ganze Zeit über an Dich gedacht habe. Am liebsten hätte ich mich sofort hingesetzt, um Dir zu schreiben, was wir rausbekommen haben.
Deine Mutter hieß Elisabeth, wie ich, und sie war die Jugendliebe des Vaters! Sie ist ihm nachgereist. Sie ist aus der DDR geflohen. Über die Umstände ihrer Flucht habe ich nichts rausbekommen. Es gab keinen Grund, dieses Leben zu verheimlichen. Sie hätte stolz sein können auf ihren Mut, auf ihren Entschluss, nicht in N., nicht in diesem Schwarz-Weiß-Film zu verblassen, sondern ein neues, farbiges Leben zu beginnen. Die Liebe ihrer Jugend zu suchen. Auch wenn der Vater sich nicht für sie entscheiden konnte oder sie enttäuscht war vom Vater, weil er ein anderer geworden war, ein Soldat, ein Choleriker, ein unfreiwilliger Ehemann, ein haltloser Emigrant, ein Trinker, ein Lügner.
Ich habe Valon das Bild gezeigt. Ist er tot, hat er mich gefragt. Ja, er ist tot. Nein, hat Valon gesagt. Er lebt. Ich sehe ihn in deinen Augen. In deiner Stimme kann ich ihn hören. Er nahm mich in den Arm, küsste meine Stirn. Dann holte er seine Gitarre aus dem Zimmer. Er sang ein trauriges Lied, das wunderschön war, er lächelte, goss mir Wein nach, er sagte: Die Toten leben. Immer weiter. Die Erde ist voll von ihnen,
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