Was wir erben (German Edition)
brach es aus ihr her aus. Er ist tot, sagte ich. Schon fünfzehn Jahre. Und ich weiß nichts über ihn. Sie müssen mir helfen, Frau Lüders. Ich klang weinerlich. Hofffmann sah mich streng an. Klappe halten, hieß das. (»Zu viel von sich reden, heißt sich verbergen.«) Es ist alles lange her, sagte Hofffmann, was wollen Sie loswerden?
Ja, sagte die Frau, ich habe ihn damals angeschwärzt. Ich bin zu meinem Vater und habe ihm gesagt, dass er nicht nett zu mir gewesen sei. Er habe mich verspottet und mich eine Rote Qualle genannt. Ich war das einzige Kind meines Vaters. Er war zornig. Ich erzählte ihm vonseiner Arbeit in der Jungen Gemeinde. Er sei ein Gegner unserer neuen, schönen Gesellschaft. Was bildet dieser Schnösel sich nur ein, schrie er rum, dem werd ich’s zeigen.
Sie müssen mir glauben, ich habe meinen Vater angefleht, nichts zu unternehmen, aber er ließ sich nicht abbringen von seinem Plan. Er war aufbrausend. Diese Stimmung damals. Dieser Aufbruch. Um es ganz direkt zu sagen: Ich war verliebt in Ihren Herrn Vater, aber der hatte nur Augen für eine andere. Das war schlimm. Das kennen Sie doch. Wenn man jung ist, bedeutet das die Welt für einen. Ich habe ihn angeschwärzt. Aus Enttäuschung, aus Eifersucht. Aber als Ihr Herr Vater dann ins Gefängnis kam und anschließend auch noch von der Schule flog, da tat er mir leid. Nun sagen Sie schon, was ist denn aus ihm geworden.
Soldat. Er ist Soldat geworden. Er, Soldat?, rief die Alte ungläubig. Dann war Stille. Minutenlang saßen wir da und starrten, jeder für sich, an die Wand. Bis sie wieder anfing: Ich habe mich all die Jahre gefragt, was das für Leute sind, die uns da bedrohen. Hofffmann wurde grün. Ich sah ihm an, dass nun die Zeit gekommen war, Stufe zwei seines Plans einzuläuten. Er zückte das Foto. Die Frau rieb sich die Augen. Ist er das?, fragte sie. Wissen Sie, ich sehe nicht mehr gut. Grauer Star. Sie riss die Augen auf. Man sah den Schleier hinter der Linse. Lassen Sie sich operieren, sagt Hofffmann nüchtern. Man kann da nichts mehr machen, wimmerte die Alte. Das stimmt nicht, sagteHofffmann. (»Die Lüge ist die Wahrheit. Allem Anschein nach.«) Schauen Sie hin. Widerwillig hielt sie sich die Fotografie vor die Nase. Hofffmann griff ihren Arm und fixierte ihn vor ihrem dicklichen, fast faltenlosen Gesicht und dann fing er an, ihr das Bild zu beschreiben. Haarklein. Die Umgebung. Die Kleidung. Die beiden Gesichter. Seine Schilderung war vorsichtig und präzise. Die Alte konnte ihre optische Unschärfe mit Hilfe seiner klaren Worten auflösen. Was beim Zuhören entstand: Schönheit. Es war, als würden die beiden, der Vater und Deine Mutter, aus dem Foto steigen.
Als ich das Foto zum allerersten Mal gemustert hatte, habe ich mir genau das gewünscht. Auf Play drücken, um den Film weiterlaufen zu lassen. (»Wünsche vererben sich als Kassiber.«) Hofffmann konzentrierte sich vor allem auf das Abbild Deiner Mutter. Ich kann gar nicht wiedergeben, wie zärtlich, wie ernsthaft er Deine Mutter in den Raum gezaubert hat. Die Alte hat die Augen geschlossen und gelauscht. Hofffmann sprach ganz leise. Es war wie eine Beschwörung. Aus den geschlossenen Lidern der Frau quollen einzelne Tränen und perlten gemächlich die Wangen herunter. Das ist sie, sagte sie nach einer Weile. Das ist sie.
Wer ist das?
Das ist seine Freundin von damals. Das ist die Frau, die ich so beneidet habe. Weil sie mit ihm befreundet war. Wegen ihr habe ich ihn angeschwärzt. Wegen ihr hat alles angefangen. Sie war die beste Schwimmerin von allen.
Die Seance war beendet. Die Frau sackte in ihrem Sessel zusammen. Hofffmann nahm das Bild, legte es wieder in die grüne Mappe, die auf dem Tisch lag, und stand auf.
Deine Mutter: die Jugendliebe des Vaters.
Hofffmann schlug vor, einen Spaziergang zu machen. Als wir in einiger Entfernung zu den Plattenbauten am Rand eines Waldes angekommen waren, hatte die Frau alles gesagt, was sie vorgab zu wissen. Die Freundin des Vaters habe nach seiner Flucht die Schule nicht verlassen müssen. Sie sei freiwillig abgegangen und habe dann in der örtlichen Poliklinik eine Ausbildung zur Krankenschwester absolviert. Einmal, Jahre später, habe sie sie zufällig beim Einkaufen in der Stadt getroffen. Man habe sich unterhalten, wie man sich eben unterhält, wenn man gemeinsam dieselbe Schule besucht hat. Sie habe nicht das Gefühl gehabt, dass sie ihr noch böse gewesen sei. Sie sei gerade dabei gewesen, eine neue Stelle als
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