Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Was wir erben (German Edition)

Was wir erben (German Edition)

Titel: Was wir erben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: BjÖrn Bicker
Vom Netzwerk:
Karacho zu. Wir standen vor einem aufgeschickten Plattenbau am Rande von N. Da oben wohnt sie. Soll ich mitkommen? Ein Blick von mir reichte mittlerweile und Hofffmann war klar, dass er seines Amtes als Schatten, Beschützer, Ratgeber und Retter zu walten hatte. Er hakte sich bei mir unter und zog mich mit sich. Es dauerte ewig, bis die alte Frau die Tür geöffnet hatte. Verschmitzt begrüßte sie uns, ihr Enkel habe ihr gesagt, worum es gehe, sie sei sehr aufgeregt, das komme schließlich nicht oft vor. Besuch aus derVergangenheit. Sie bat uns in ihr überheiztes Wohnzimmer, an der Wand Spitzweg-Repros in Glasrahmen. Hofffmann und ich ließen uns auf ihr Sofa fallen und versanken darin. Sie brachte Kaffee und Gebäck. Noch bevor wir ein Wort sagen konnten, fing sie an, sich zu entschudigen. Es tue ihr alles so wahnsinnig leid. Sie habe ihr Leben lang darunter gelitten. Nichts habe sie tun können damals. Sie starrte beim Reden an uns vorbei. Ihr Vater sei ein Hundertprozentiger gewesen. Sie habe nur einmal gewagt, ihm zu widersprechen, und da habe es Backpfeifen gehagelt. Ich musste lachen, weil sich diese kleine, rundliche Person so unbeholfen altmodisch ausdrückte. Sie sei so naiv gewesen. Sie habe ihrem Vater voller Bewunderung vom Vater erzählt. Ein schneidiger Kerl sei der Vater damals gewesen, stolz, unabhängig, mutig. Das habe sie sehr bewundert. Er habe Widerworte gegeben. Er habe den Lehrern die Stirn geboten. Die Alte hörte gar nicht mehr auf, zu schwärmen. Sie malte das Bild eines Fabelwesens. Ich hatte Angst, dass wir im Wohnzimmer einer Idiotin sitzen. Hofffmann aß Kekse und ich verlor den Faden. Ich wollte freundlich sein und sie nicht unterbrechen, aber sie war mittlerweile bei ihrem Mann, ihren Kindern und Enkeln angekommen und redete von einem eingeebneten Freibad und den endlosen Sommern im Weinberg. Ihr schien es zu gefallen, endlich Zuhörer gefunden zu haben. Die Gewitztheit vom Anfang war einer geschwätzigen Selbstgefälligkeit gewichen. Hofffmann unterbrach den Monolog. So, sagte er, dann kommen wir mal zur Sache.Er zückte die Kopie des Zeitungsartikels, den ich aus den Unterlagen des toten Vaters gerettet hatte. Er las laut und ernsthaft vor, was da gedruckt stand:
FREIHEIT. 25. November 1952. Nr. 96 / S. 2. Seit dem Beschluss der II. Parteikonferenz über den Aufbau der Grundlagen des Sozialismus hat sich der Klassenkampf auch auf unseren Oberschulen verschärft. Hier glauben feindliche Elemente, einen fruchtbaren Nährboden für ihre zersetzende Tätigkeit gefunden zu haben. Ganz besonders trat das an der Oberschule in N. in Erscheinung. Aufmerksam gemacht durch den Brief des Arbeiters Gustav Lüders an den Rat des Bezirks, untersuchte die Bezirksleitung der FDJ, zur gleichen Zeit der Untersuchung durch den Rat des Bezirks, die Arbeit der Freien Deutschen Jugend an dieser Oberschule. Es ergab sich, dass die FDJ-Arbeit an der Oberschule schon seit längerer Zeit bewusst sabotiert wurde. So arbeiteten z.B. solche Elemente, wie der Funktionär für Organisation P. und der Funktionär für Agitation, Propaganda und Kultur T., ein Jahr lang in der Zentralen Schulgruppenleitung. Beide waren als Organisatoren der illegalen »Jungen Gemeinde« verschworene Feinde unserer Republik und unseres Verbandes. Durch ihre zersetzende Arbeit an der Oberschule und ihre Flucht nach dem Westen brachten sie dies offen zum Ausdruck.
    Wir waren mitten in einem Verhör. Hofffmann legte den Zettel auf den Wohnzimmertisch. (»Die Wahrheit ist ein funkelndes Wesen, manchmal aus Papier.«) Warum, fragte Hofffmann, ganz grau, hat Ihr Vater die jungenMänner ans Messer geliefert? Weil er ein Fanatiker war. Aber warum hat ihn die Oberschule interessiert? Das war meine Schule. Ich war auch auf dieser Schule. Und ich kannte Ihren Herrn Vater. So wie Sie eben von ihm geschwärmt haben, hakte Hofffmann nach, waren sie in ihn verliebt. Die Alte begriff langsam, was vor sich ging.
    Ich konnte nichts sagen. Ich war überwältigt von der Gegenwart der Frau, die den Vater gekannt hatte, die, nach Stand der Dinge, sogar in ihn verliebt gewesen war. Ich überließ alles Hofffmann. Er war der Experte für schwierige Gespräche.
    Ja, das kann man so sagen, hauchte sie. Das klang wie ein Geständnis. Die investigative Sachlichkeit Hofffmanns hatte sich schlagartig in die Einfühlung eines über alle Zweifel erhabenen Therapeuten verwandelt. Das ist eine große Chance für Sie, Frau Lüders.
    Was ist mit ihm? Wie geht es ihm?,

Weitere Kostenlose Bücher