Was wir Liebe nennen
verschwand. Es hat ihn in den unmöglichsten Momenten erwischt. Beim Zähneputzen. Im Kino. Einmal stand er vor mir an der Supermarktkasse und flüsterte âºLeb wohl.â¹ Mir fielen fast die Einkäufe runter. Er stand da, auf das Laufband gestützt, das ihn langsam von mir wegbewegte. Ich konnte ja nichts machen.«
»Das tut mir leid.«
»Nach ein paar Minuten war es jedes Mal wieder gut. Und kein Arzt konnte etwas finden. Am Ende ist er selbst in die Bibliothek gegangen und hat herausgefunden, was es war.« Die Frau sah ihn an, irgendwo zwischen Verzweiflung und Stolz. »Man nennt es Herzangst. Obwohl mit dem Herzen eigentlich nichts ist. AuÃer die Sorge, es könnte aufhören zu schlagen. Sobald er das verstanden hatte, war es vorbei.«
»Wie ausge s prochen beruhigend.«
»Ja. Für alle.«
Lambert hob seine Tasche auf und machte eine kleine Verbeugung. »Ich danke Ihnen. Sagen Sie Ihrem Freund bitte einen Gruà von mir. Bei Gelegenheit.«
Am Fahrstuhl sah er sich nach ihr um. Wieder der Gedanke, warum er nicht einfach gefragt hatte, ob er sich zu ihr legen dürfe. Aber sie war ja vergeben. Und er auch. An wen auch immer.
Im Zimmer stellte Lambert seine Tasche auf den Tisch. Als er die Vorhänge zuziehen wollte, sah er die Silhouette eines Raubvogels über den Himmel gleiten und daneben seinen Schatten, der ihm beharrlich folgte. Es dauerte einen Moment, bis Lambert begriff, dass man auf den Himmel keinen Schatten werfen konnte. Es war ein zweiter Vogel, der dem ersten folgte, treu wie eine Erinnerung.
Die benutzte Decke warf er auf den Sessel, rollte sich so, wie er war, auf die Matratze und deckte sich mit seiner Jacke zu. Das Letzte, was er im Halbdunkel des Raumes erkannte, war eine Reihe zerlesener Bücher auf dem Nachttisch, deren seltsame Titel ihn zu anderen Zeiten neugierig gemacht hätten. So aber drehte er sich zur Seite und schlief auf der Stelle ein.
16
Andrea hatte er auf einer Wanderung in den Bergen kennengelernt. Ein Regenguss, er war allein unterwegs und flüchtete sich in eine Abtei. Der Kirchenraum war leer, offenbar wurde gearbeitet, überall sah er Leitern und Gerüste, Werkzeug und Druckluftflaschen, aber keine menschliche Seele. Triefnass hatte Lambert seine Sachen über den Taufstein geworfen und sich in eine der Bänke gesetzt. Sein Schweigen hatte weniger mit Andacht zu tun als mit der Unsicherheit, wie es, wenn der Regen nicht enden würde, mit dem Tag weiterging.
Nach einer Weile hörte Lambert von oben ein Rascheln. Im ersten Moment glaubte er, es sei Gott.
Dann schob sich ihr kleines Gesicht über das oberste Gerüstbrett, und sie sagte leise: »Hallo?« Es hallte durch den ganzen Kirchenraum.
»Was machen Sie denn da oben?«
»Ich restauriere. Was machen Sie da unten?«
»Ich suche Schutz. Störe ich?«
»Nicht besonders. Aber fassen Sie nichts an.«
Er besah sich die Kirche, den Hochaltar, die Kanzel, die Fürstengruft, mit auf dem Rücken verschränkten Händen las er sich jede der Votivtafeln durch, die Bitten und den Dank. An der Marienkapelle stand Zuflucht der Sünder. Lambert betrachtete die Pracht mit gemischtem Gefühl und zudem noch immer halb nasser Kleidung, während von oben ab und zu ein Räu s pern oder Seufzen drang. Es schien eine beschwerliche Arbeit zu sein.
Endlich brach er das Schweigen: »Hier unten hätte ich alles gesehen. Trocken allerdings bin ich noch nicht. Gehören die Deckengemälde mit zur Besichtigung?«
»Sie sind ja einer.« Ihre Stimme schien von überallher zu kommen. »Na schön, klettern Sie hoch. Aber geben Sie mir nicht die Schuld, wenn Ihnen schwindelig wird.«
Er hangelte sich am Gerüst empor und war froh, dass sie sich wieder ihrer Arbeit zugewandt hatte, er gab wohl keine besonders engelsgleiche Figur ab. Als er den Kopf über das Brett streckte, saà sie im Schneidersitz vor ihm, im weiÃen Kittel, das Haar mit einem Kopftuch zusammengehalten, einen Pinsel im Mund, und ein halb nackter Mann beugte sich über sie. Der Mann war an die Holzdecke gemalt, im Arm hielt er eine Begleiterin, die kaum züchtiger bekleidet war. Ein gewaltiger Engel folgte ihnen. Ganz offensichtlich stand die Vertreibung aus dem Paradies bevor.
»Sie kommen gerade richtig. Ich bin beim Apfel.«
»Das würde Ihnen so gefallen.« Lambert hockte sich neben sie.
»Sieht er nicht
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