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Was wir Liebe nennen

Was wir Liebe nennen

Titel: Was wir Liebe nennen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Lendle
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können, er war Teil eines Dreiers geworden, für den er sich nicht entschieden hatte, dem er aber auch nicht mehr entkam. Mittlerweile ließ sich anhand der Geräusche kaum mehr nachvollziehen, was nebenan vor sich ging. Lambert nahm das Ohr nicht mehr von der Wand, bis sie im Nachbarzimmer zur Ruhe gekommen waren.
    Dann stand er auf und ging in das winzige Bad. Das Wasser schmeckte nach Rost. Er wusch sich lange, auch Hals und Ohren, und schäumte sich die Bartstoppeln ein. Als er eben im Begriff war, mit hochgerecktem Kinn die Klinge anzusetzen, bemerkte er, dass jemand ihm zusah. Ohne den Kopf zu drehen, die Hand mit der Rasierklinge noch immer erhoben, s pähte Lambert zur Seite.
    Entwarnung. Er war es selbst, seine S piegelung im Fenster. Er zwinkerte sich zu, keine Gefahr. Da war nichts als ein zweites Ich. Im Profil sah es fremd aus.
    Er rubbelte sich trocken und trat, noch immer nackt, zurück ins Zimmer. Auf dem Bett hockend, schrieb er Andrea eine Antwort.
    Erst seit gestern hier wg Zwischenlandung Irland. Montreal ist ein Traum. Auftritt gelungen, jetzt allein im Hotel. Nebenan vögeln gerade zwei. Denke an dich. L
    Genau 160 Zeichen, sollte keiner sagen, dass es nicht zugewandt klang. Auch wenn für einen Kuss kein Platz geblieben war.
    Lambert zog sich ein T-Shirt über den Kopf, aber es war falsch herum, sodass er alles von hinten nach vorne drehen musste. Der enge Ausschnitt schnitt beim Drehen in den Hals, als würde ihm der Kopf abgetrennt.
    Die Asiatin an der Rezeption befand sich gerade im Ge s präch mit einer Frau, neben der drei dicke Kinder und drei ebenso dicke Koffer warteten. Lambert stahl sich an ihnen vorbei.
    Ãœber eine Brücke erreichte er die Ile Sainte Hélène, die er nachts vom Kai aus gesehen hatte. Im Morgenlicht wirkte sie lebendiger als in der Dunkelheit. Die gestern noch irrlichternden Laternen waren erloschen, Kinder fuhren mit ihren Rollern im Slalom um die Pfähle herum, an einem stand ein Hund und schnüffelte wie von Sinnen.
    Lambert ging bis zur südlichen S pitze der Insel, wo er sich ans Ufer hockte. Vor ihm die endlose Wasserfläche des Flusses, breit und ruhig wie ein See. Lambert stellte sich vor, es sei die Stirn Gottes, vor der er saß, der Alte schien sich keine großen Sorgen zu machen. Nur manchmal warf eine Böe ver s pielte Wellen darüber, die Muster ins Sonnenlicht malten. Die Geräusche der Stadt verschwammen zu einem gedämpften, wohligen Rauschen. Auf dem Wasser einzelne Ausflugsschiffe, Lastkähne, ein paar Segelboote, deren Takelage schlaff herunterhing wie die weiße Fahne einer geschlagenen Armee.
    Je länger Lambert hinausstarrte, desto überzeugter war er, dass der Wasser s piegel zum Horizont hin anstieg. Nach vorne aber, zu ihm hin, war er ganz offensichtlich abschüssig. Lambert hielt sich an einem Grasbüschel fest. Längst hätte das Wasser ihn über s pülen, mitreißen und unterwirbeln müssen, und selbst sein Wissen, dass das nicht sein konnte, dass unmöglich war, was er sich einbildete, nahm dem Eindruck nichts von seiner Gewalt.
    Auch sein Herz war noch immer nicht zur Ruhe gekommen.
    Er hatte sich gerade die Schuhe ausgezogen, um seine Füße im Wasser zu kühlen, als eine Nachricht eintraf.
    Bin dabei. Am Vormittag sind die Fütterungen. Mache gerade noch die Pferde fertig, dann fahre ich los. In einer Stunde am Eingang.
    Die Sonne hatte sich unterdessen über die Türme der Stadt erhoben. Ihr gegenüber stand ein schon nicht mehr ganz voller Mond. Wie erstaunlich es war, dass die beiden Kreise gleich groß waren. Dass, wenn sie zusammenkamen, einer den anderen genau bedeckte. Man wartete immer auf Wunder, hier hatte man eines. Das war es, was Lambert ein Wunder nannte – wenn weit entfernte Dinge auf erstaunliche Weise übereinstimmten. Himmelskörper zum Bei s piel.
    Zauberei dagegen gehörte nicht ins Reich der Wunder. Wahrscheinlich gab es keinen größeren Unterschied als den zwischen Wunder und Zauberei. Lambert beschloss, von nun an jeden Tag ein Wunder zu erleben.
    Vielleicht, dachte er, als er sich seine Schuhe wieder anzog, war es auch nur erstaunlich, dass er sich genau an jenem Punkt im All befand, von dem aus Sonne und Mond gleich groß erschienen. Was wusste man schon, wie es anderswo war, man konnte es ja nur von sich aus beurteilen. Alles eine Frage der Konstellation, des Zusammen s piels.
    Er hörte ein

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