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Was wir Liebe nennen

Was wir Liebe nennen

Titel: Was wir Liebe nennen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Lendle
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Schilder wiesen zum Champ de Mars. Eine tote Rolltreppe führte ihn an die Luft, zurück zum Grollen der Stadtautobahn. Er bog auf einen Boulevard und lief eine Zeit lang in der Mitte der Fahrbahn, mit ausgebreiteten Armen, ein schmales, zerbrechliches Tier. Einmal überholte ihn knatternd ein Mofa und verschwand in der Ferne, auf dem Weg ins Glück oder auf der Flucht davor.
    Schließlich landete er am Quai de l’Horloge, am Ufer des Lorenzstroms. Der Uhrturm stand am äußersten Ende der Mole, starr und weiß, eine Allee schmiedeeiserner Laternen tauchte ihn in ihr milchiges Licht. Lambert kletterte über einen Zaun, dann war er am Wasser. Ins Straßenpflaster waren Geleise eingelassen, vom Fluss her zog Nebel auf. Es roch nach Hopfen und Fäulnis, nach Gärung. Er war auf dem Gelände einer Brauerei gelandet, aus den Schloten quoll Dampf, der gleich zu Boden sank und ihm den Atem nahm. Lambert setzte sich an den Kai und zog die Beine an. Er hatte keine Vorstellung, wie s pät es war, hier oder an irgendeinem anderen Ort der Welt. Ihm fiel ein, dass er sich bei Andrea melden musste, aber er konnte ihr unmöglich eine Nachricht schicken, solange sie noch schlief. Sie schaltete ihr Telefon nie ab, bevor sie wusste, dass er gut angekommen war. Das Piepen würde sie wecken, und am Ende könnte sie nicht mehr einschlafen.
    Ob am Grunde des Lorenzstroms irgendeine Form von Leben möglich war? Es sah nicht danach aus. Nach einer Weile dämmerte Lambert, dass bei Andrea längst Tag war, aber machte das nicht alles nur schlimmer? Sie würde seine Nachricht lesen und gleich versuchen, ihn anzurufen, in bester Frühstückslaune, um seine Erlebnisse zu hören und mit ihm zu be s prechen, und Lambert müsste, um es so weit nicht kommen zu lassen, das Telefon immer weiterklingeln lassen in diese seltsame Nacht.
    Er saß einfach da und sah vor sich hin, das schwarze Wasser warf die winzigen Lichter vom Ufer der Ile Sainte Hélène zurück. Die Wirbel und Windungen auf dem Fluss beruhigten ihn. Wie war das mit dem Verlieben noch mal genau, dieser Wegfall des Serotonins und alles andere? Er kannte sich damit nicht aus, aber Fe musste es wissen, sie hatte es studiert. Was zwischen ihnen passierte, war nicht zuletzt eine Frage der Zoologie. Lambert hätte sie nur fragen müssen.
    Wenn er aufstieß, roch es nach Sake. Wenn er nicht aufstieß, roch es nach Brauerei. Lambert erhob sich und stützte sich dann lange an eine Laterne, aber sosehr er auch würgte, es kam nichts heraus. Ihm stand ohnehin nicht der Sinn nach einer Wiederbegegnung mit unverdauten Glückskekszetteln.
    Positionen, in denen Schlaf nicht möglich war: an den Fuß einer Laterne gelehnt, während ihm die Kälte in den Rücken fuhr. Im Schneidersitz, das Gesicht in den Händen verborgen. Die Stirn ans kalte Metall der Laterne gepresst, die er mit einer Hand umarmte. Auf der Seite liegend, den Kopf auf seine Tasche gebettet, während die Augen versuchten, sich auf der tanzenden Oberfläche des Flusses festzuhalten.
    Gedanken, die ihm durch den Kopf gingen, während er abwartete, ob irgendeine dieser Positionen am Ende doch noch zum Schlaf führen mochte: ob das Unwohlsein, das ihn befallen hatte, sich je wieder abschütteln ließ. Was es über ihr Verhältnis aussagte, dass bei Andrea heller Tag war und bei ihm tiefe Nacht. Wenn er herauszufinden versuchte, was mit ihm war, verwirbelten seine Gedanken wie die Muster auf dem Wasser des Flusses. Er versuchte, ruhiger zu atmen. Sie hatte ihn geküsst, na und? Er malte sich aus, was folgen würde. Die Fragen, die Zerrissenheit. Konnte er gar nichts dagegen unternehmen? Kam es von dem Haar, das sie sich ausgerissen hatte? Lag ein geheimer Fluch darauf, hatte sie ihn damit gebunden? Lambert fühlte sich auf seltsame Art verzaubert. Es war ein recht unheimliches Gefühl.
    Am Ende holte er doch noch sein Telefon aus der Tasche. Lange Zahlen im Kopf zu behalten gehörte zu seinem Beruf. Wozu sonst hatte er Kathy dazu gebracht, Fe nach ihrer Nummer zu fragen?
    Gibt es hier einen Tierpark? Es können doch nicht alle ausgestorben sein. Bist du dabei?
    Er bekam keine Antwort. In den Himmel über der Insel mischte sich schon das erste Blau, als er mit dem Telefon in der Faust endlich einschlief.

15
    Lambert wachte davon auf, dass er starb. Um genau zu sein, schreckte er hoch, weil sein Herz zu schlagen aufgehört

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